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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0057
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34 Die fröhliche Wissenschaft

„Nietzsche in Zarathustra [...] und Zarathustra in Nietzsche" sah (Grätz 2016,
357), hat sich die Unterscheidung zwischen N. als empirischem Autor und Zara-
thustra als fiktiver Figur in der Forschung inzwischen weithin durchgesetzt.
Im Fall von FW und den anderen ,Aphorismenbüchern' N.s hingegen scheint
für viele Interpreten nach wie vor ganz selbstverständlich der Autor selbst zu
sprechen - sofern denn nicht, wie in den genannten Ausnahmefällen, offen-
sichtliche Fiktionalitätssignale vorliegen. Nimmt man indes die erwähnte Mul-
tiperspektivität von N.s Texten, die sowohl auf kotextueller als auch intratextu-
eller Ebene zu mancherlei Ungereimtheiten führt, als Denk- und Schreibstil
ernst, so lässt sich die jeweils sprechende Instanz genauer als eine perspektivi-
sche Sprechinstanz fassen, die zwar „ich" oder im Pluralis auctoris „wir" sagen
mag, aber keineswegs umstandslos mit dem empirischen Autor N. zu identifi-
zieren ist. In Teilen der jüngeren Forschung zeigt sich erfreulicherweise schon
ein geschärftes Bewusstsein für das daraus ableitbare Faktum, dass N.s ,apho-
ristische' Prosa generell als „Rollenprosa" (Benne 2016b, 109) zu betrachten
ist. Und zwar nicht nur dann, wenn wir es, wie etwa in dem prominenten Ab-
schnitt FW 125, mit einer gleich auf den ersten Blick als fiktive Figur erkennba-
ren Sprechinstanz zu tun haben wie „jenen tollen Menschen" (480, 22 f.), der -
und nicht etwa N. - hier verkündet: „Gott ist todt!" (481, 15) Es empfiehlt sich
in der Tat die hermeneutische Prämisse, auch die scheinbar nicht-fiktionalen
,Aphorismen' von FW, in denen ohne erkennbaren narrativen oder dialogi-
schen Rahmen ein Ich oder Wir und unter Umständen wechselnde Ichs und
Wirs sprechen, prinzipiell als Rollenrede zu verstehen.
Die Unterscheidung zwischen perspektivischer Sprechinstanz und empiri-
schem Autor sollte auch dort gelten, wo N. scheinbar auf sich selbst als Person
referiert, wie am eindeutigsten wohl in FW Vorrede 2. Der Abschnitt beginnt
mit den Worten: „Aber lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns an, dass
Herr Nietzsche wieder gesund wurde?" (347, 2 f.) Dieser Satz legt einerseits zwar
nahe, dass es sich im vorangehenden, ersten Abschnitt der Vorrede um die
Privatbelange des historischen „Herrn Nietzsche" gehandelt habe, namentlich
um seine Genesung von langer Krankheit, der sich die Entstehung von FW
verdanke, wie dort (allerdings nicht ganz glaubhaft) versichert wird. Anderer-
seits impliziert bereits das Reden über „Herrn Nietzsche" in der dritten Person,
dass das hier sprechende „wir"/„uns" sich von diesem „Herrn Nietzsche" ir-
gendwie distanziert, was dann ja noch durch die ironische (Selbst-)Aufforde-
rung zur thematischen Abkehr unterstrichen wird (vgl. NK 347, 2 f.). Das lässt
sich so verstehen, dass zuvor „Herr Nietzsche" die sprechende Instanz war,
die noch im „ich"-Modus von sich selbst erzählte, während jetzt ein anderes
Aussagesubjekt das Wort ergreift und an seine Stelle tritt: das „wir", das mit
einer rhetorischen Frage ausdrücklich - aber, wie sich anschließend zeigt, nur
 
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