Überblickskommentar 35
scheinbar - auf Abstand zu „Herrn Nietzsche" und seinem vermeintlichen Ge-
nesungserlebnis geht.
Mit Paul van Tongerens treffender Formulierung kann man hier von „,Nietz-
sche'-Darbietungen oder -Performances" (Tongeren 2012a, 16) sprechen, letzt-
lich von Auto(r)fiktionen (vgl. Wagner-Egelhaaf 2013), wie sich literaturtheore-
tisch ergänzen oder präzisieren ließe. Dies veträgt sich auch grundsätzlich mit
dem Befund von Dehrmann 2014, 273 f., dem zufolge N. in FW Vorrede „eine
Autorfunktion [inszeniert], die sich gleichsam als empirischer Autor gibt", mit
diesem aber „nicht [...] verwechselt werden" dürfe. Christian Benne und Jutta
Georg weiten diesen Befund auf FW im Ganzen aus, indem sie festhalten, darin
spreche N. „nicht als Nietzsche, sondern als ,Nietzsche', d. h. als beständig sich
selbst inszenierender [...] philosophischer Schriftsteller" (Benne/Georg 2015a, 1).
Damit kann jedoch nicht gemeint sein, dass FW nur eine einzige auto(r)fiktive
Sprechinstanz bzw. ,„Nietzsche'"-Inszenierung vorzuweisen hätte oder N. sich
lediglich „in zwei Rollen aufteilt" (Dehrmann 2014, 273). Die Selbst- oder viel-
mehr Sprechinstanz-Inszenierungen wechseln dagegen beständig, und dabei
können nahezu beliebig viele unterschiedliche, ja gegensätzliche Rollen, Per-
spektiven und Positionen eingenommen werden. Selbst wenn die Stimme des
empirischen Autors N. sich bisweilen daruntermischen sollte, so ließe sie sich
doch nicht mehr von der Vielzahl der anderen sprechenden Stimmen unter-
scheiden.
Aber, so möchte man vielleicht fragen, ist das überhaupt noch Philosophie
oder schon bzw. ,nur‘ Literatur? Immerhin haben wir es mit Texten zu tun, die
wechselnde Sprechinstanzen und Perspektiven zur Geltung bringen und mit
Relativierungen, Paradoxien und Ironie arbeiten - mit Darstellungsmitteln, die
die Verbindlichkeit von Aussagen konterkarieren und dadurch das unterbin-
den, was viele Rezipienten von Philosophie erwarten: den Entwurf eines syste-
matischen Gedankengebäudes oder wenigstens definitive, logisch möglichst
sauber hergeleitete Aussagen, die sich als Wahrheiten' präsentieren. Stattdes-
sen sind N.s ,Aphorismen' durchzogen von unterschiedlichen Formen des
uneigentlichen Sprechens und von vielfältigen Strategien der Distanzierung
gegenüber dem Aussagegehalt, die den Eindruck unverbindlicher Denkexperi-
mente erzeugen. Höchst ungewöhnlich für philosophische Texte ist etwa die
Vorliebe für den Konjunktiv und das hypothetische ,Als ob', die das Dargelegte
unter Vorbehalt stellen, so zum Beispiel, wenn der prominente Gedanke der
„ewigen Wiederkehr" in FW 341 im irrealen Modus des ,Was wäre wenn ...'
vorgetragen wird (generell zum Zusammenhang von „Als-ob-Struktur" und
literarischer „Fiktionalität" vgl. Hempfer 1990, 127). Analog zum narratologi-
schen Konzept des ,unzuverlässigen Erzählens' (vgl. Martinez/Scheffel 2007,
95-107) könnte man bei N. auch von einem ,unzuverlässigen Argumentieren'
scheinbar - auf Abstand zu „Herrn Nietzsche" und seinem vermeintlichen Ge-
nesungserlebnis geht.
Mit Paul van Tongerens treffender Formulierung kann man hier von „,Nietz-
sche'-Darbietungen oder -Performances" (Tongeren 2012a, 16) sprechen, letzt-
lich von Auto(r)fiktionen (vgl. Wagner-Egelhaaf 2013), wie sich literaturtheore-
tisch ergänzen oder präzisieren ließe. Dies veträgt sich auch grundsätzlich mit
dem Befund von Dehrmann 2014, 273 f., dem zufolge N. in FW Vorrede „eine
Autorfunktion [inszeniert], die sich gleichsam als empirischer Autor gibt", mit
diesem aber „nicht [...] verwechselt werden" dürfe. Christian Benne und Jutta
Georg weiten diesen Befund auf FW im Ganzen aus, indem sie festhalten, darin
spreche N. „nicht als Nietzsche, sondern als ,Nietzsche', d. h. als beständig sich
selbst inszenierender [...] philosophischer Schriftsteller" (Benne/Georg 2015a, 1).
Damit kann jedoch nicht gemeint sein, dass FW nur eine einzige auto(r)fiktive
Sprechinstanz bzw. ,„Nietzsche'"-Inszenierung vorzuweisen hätte oder N. sich
lediglich „in zwei Rollen aufteilt" (Dehrmann 2014, 273). Die Selbst- oder viel-
mehr Sprechinstanz-Inszenierungen wechseln dagegen beständig, und dabei
können nahezu beliebig viele unterschiedliche, ja gegensätzliche Rollen, Per-
spektiven und Positionen eingenommen werden. Selbst wenn die Stimme des
empirischen Autors N. sich bisweilen daruntermischen sollte, so ließe sie sich
doch nicht mehr von der Vielzahl der anderen sprechenden Stimmen unter-
scheiden.
Aber, so möchte man vielleicht fragen, ist das überhaupt noch Philosophie
oder schon bzw. ,nur‘ Literatur? Immerhin haben wir es mit Texten zu tun, die
wechselnde Sprechinstanzen und Perspektiven zur Geltung bringen und mit
Relativierungen, Paradoxien und Ironie arbeiten - mit Darstellungsmitteln, die
die Verbindlichkeit von Aussagen konterkarieren und dadurch das unterbin-
den, was viele Rezipienten von Philosophie erwarten: den Entwurf eines syste-
matischen Gedankengebäudes oder wenigstens definitive, logisch möglichst
sauber hergeleitete Aussagen, die sich als Wahrheiten' präsentieren. Stattdes-
sen sind N.s ,Aphorismen' durchzogen von unterschiedlichen Formen des
uneigentlichen Sprechens und von vielfältigen Strategien der Distanzierung
gegenüber dem Aussagegehalt, die den Eindruck unverbindlicher Denkexperi-
mente erzeugen. Höchst ungewöhnlich für philosophische Texte ist etwa die
Vorliebe für den Konjunktiv und das hypothetische ,Als ob', die das Dargelegte
unter Vorbehalt stellen, so zum Beispiel, wenn der prominente Gedanke der
„ewigen Wiederkehr" in FW 341 im irrealen Modus des ,Was wäre wenn ...'
vorgetragen wird (generell zum Zusammenhang von „Als-ob-Struktur" und
literarischer „Fiktionalität" vgl. Hempfer 1990, 127). Analog zum narratologi-
schen Konzept des ,unzuverlässigen Erzählens' (vgl. Martinez/Scheffel 2007,
95-107) könnte man bei N. auch von einem ,unzuverlässigen Argumentieren'