Überblickskommentar 49
verstehen, dass es sich hierbei um ,freigeistige' Gedanken handeln soll. Dazu
passt zumindest, dass sich das sprechende Ich in Μ 146 gegen „eine enge und
kleinbürgerliche Moral" ausspricht und seine Sympathie für ein auf scho-
nungslose Desillusionierung ausgerichtetes Streben nach „Erkenntniss" be-
kundet, „auch trotz der Einsicht, dass unsere Freigeisterei zunächst und unmit-
telbar die Anderen in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird" (KSA 3,
137, 15-22).
Indes griffe es zu kurz, N.s ,mittlere' Werke einschließlich FW unter einen
von überkommenen Moralvorstellungen sich ablösenden, auf Selbstdenken
und Selbsthandeln abstellenden Begriff von „Freigeisterei" bringen zu wollen.
Auch wenn N. mit seiner brieflichen Äußerung gegenüber Lou von Salome ei-
ner solchen begrifflichen Reduktion oder Verschlagwortung Vorschub leistet,
sind die damit gemeinten Schriften und insbesondere FW thematisch und ,me-
thodisch' doch beträchtlich reichhaltiger und fügen sich einem solchen holz-
schnittartigen Deutungsschema nicht. Dies gilt übrigens bereits für die einzel-
nen Abschnitte, in denen der Begriff des ,Freigeists' bzw. des ,freien Geistes'
auftaucht und dabei durchaus eigene Interpretationsprobleme aufwirft, etwa
wenn in FW 180 die jetzige' „gute Zeit der freien Geister" an die Bedin-
gung geknüpft erscheint, dass „die Kirche noch steht", weil jene sich angeblich
nur deshalb „auch vor der Wissenschaft noch ihre Freiheiten" nehmen können
(502, 5-8). Vor allem aber stellt sich die Frage, inwiefern überhaupt davon die
Rede sein kann, dass mit der Erstausgabe von FW „meine ganze ,Freigeiste-
rei'", wie N. an Lou von Salome schreibt, „fertig geworden" ist (03. 07. 1882,
KSB 6/KGB III 1, Nr. 256, S. 217, Z. 9 f.). Was soll dieses Fertiggewordensein
denn genau bedeuten? Wollte N. fortan kein ,freier Geist' mehr sein? Oder sah
er darin den Durchbruch zu einer höheren ,Geistesstufe'? Rückblickend lässt
sich zumindest keine endgültige thematische Abkehr vom ,freien Geist' fest-
stellen. Vielmehr bleibt dieser weit über die Erstausgabe von FW hinaus - frei-
lich auf bedeutungsschwankende Weise - für N.s Schriften relevant; man den-
ke nur an das Zweite Hauptstück von JGB, das die Überschrift trägt: „der freie
Geist" (vgl. NK 5/1, S. 214 f.). Und noch im 1887 neu hinzugekommenen Fünften
Buch von FW ergreifen an prominenter Stelle „wir Philosophen und ,freien
Geister'" das Wort (FW 343, 574, 16).
Wenn schon nicht in konkretem Bezug zum Motiv der „Freigeisterei", so
zeugen doch auch andere werkspezifische Äußerungen N.s aus der Zeit der
Erstveröffentlichung von FW vom Gedanken einer damit verbundenen, für sein
Schaffen epochalen Zäsur. In einigen seiner damaligen Briefe kündigt er sogar
an, FW werde (zumindest für mehrere Jahre) sein letztes Werk gewesen sein.
So schreibt er an seine Gönnerin Malwida von Meysenbug vermutlich am
13. Juli 1882 aus Tautenburg: „Ich sitze hier inmitten tiefer Wälder und habe
verstehen, dass es sich hierbei um ,freigeistige' Gedanken handeln soll. Dazu
passt zumindest, dass sich das sprechende Ich in Μ 146 gegen „eine enge und
kleinbürgerliche Moral" ausspricht und seine Sympathie für ein auf scho-
nungslose Desillusionierung ausgerichtetes Streben nach „Erkenntniss" be-
kundet, „auch trotz der Einsicht, dass unsere Freigeisterei zunächst und unmit-
telbar die Anderen in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird" (KSA 3,
137, 15-22).
Indes griffe es zu kurz, N.s ,mittlere' Werke einschließlich FW unter einen
von überkommenen Moralvorstellungen sich ablösenden, auf Selbstdenken
und Selbsthandeln abstellenden Begriff von „Freigeisterei" bringen zu wollen.
Auch wenn N. mit seiner brieflichen Äußerung gegenüber Lou von Salome ei-
ner solchen begrifflichen Reduktion oder Verschlagwortung Vorschub leistet,
sind die damit gemeinten Schriften und insbesondere FW thematisch und ,me-
thodisch' doch beträchtlich reichhaltiger und fügen sich einem solchen holz-
schnittartigen Deutungsschema nicht. Dies gilt übrigens bereits für die einzel-
nen Abschnitte, in denen der Begriff des ,Freigeists' bzw. des ,freien Geistes'
auftaucht und dabei durchaus eigene Interpretationsprobleme aufwirft, etwa
wenn in FW 180 die jetzige' „gute Zeit der freien Geister" an die Bedin-
gung geknüpft erscheint, dass „die Kirche noch steht", weil jene sich angeblich
nur deshalb „auch vor der Wissenschaft noch ihre Freiheiten" nehmen können
(502, 5-8). Vor allem aber stellt sich die Frage, inwiefern überhaupt davon die
Rede sein kann, dass mit der Erstausgabe von FW „meine ganze ,Freigeiste-
rei'", wie N. an Lou von Salome schreibt, „fertig geworden" ist (03. 07. 1882,
KSB 6/KGB III 1, Nr. 256, S. 217, Z. 9 f.). Was soll dieses Fertiggewordensein
denn genau bedeuten? Wollte N. fortan kein ,freier Geist' mehr sein? Oder sah
er darin den Durchbruch zu einer höheren ,Geistesstufe'? Rückblickend lässt
sich zumindest keine endgültige thematische Abkehr vom ,freien Geist' fest-
stellen. Vielmehr bleibt dieser weit über die Erstausgabe von FW hinaus - frei-
lich auf bedeutungsschwankende Weise - für N.s Schriften relevant; man den-
ke nur an das Zweite Hauptstück von JGB, das die Überschrift trägt: „der freie
Geist" (vgl. NK 5/1, S. 214 f.). Und noch im 1887 neu hinzugekommenen Fünften
Buch von FW ergreifen an prominenter Stelle „wir Philosophen und ,freien
Geister'" das Wort (FW 343, 574, 16).
Wenn schon nicht in konkretem Bezug zum Motiv der „Freigeisterei", so
zeugen doch auch andere werkspezifische Äußerungen N.s aus der Zeit der
Erstveröffentlichung von FW vom Gedanken einer damit verbundenen, für sein
Schaffen epochalen Zäsur. In einigen seiner damaligen Briefe kündigt er sogar
an, FW werde (zumindest für mehrere Jahre) sein letztes Werk gewesen sein.
So schreibt er an seine Gönnerin Malwida von Meysenbug vermutlich am
13. Juli 1882 aus Tautenburg: „Ich sitze hier inmitten tiefer Wälder und habe