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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0115
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92 Die fröhliche Wissenschaft

steht über der Thür des künftigen Denkers." (KSA 3, 318, 14 f.) Dem Ausruf
„Was liegt an mir!" am Ende dieses Abschnitts aus Μ korrespondieren die ab-
schließenden Verse 3 und 4 des Motto-Gedichts zur Neuausgabe von FW:
„Und - lachte noch jeden Meister aus, / Der nicht sich selber ausgelacht." Das
Lachen über sich selbst bezeichnet die - im vorigen Vers schon vom lyrischen
Autor-Ich demonstrierte - Fähigkeit zur Selbstironie, die Fähigkeit, sich selbst
nicht allzu ernst zu nehmen, die erst den wahren „Meister" ausmache und die
das sprechende Ich hiermit nicht zuletzt für sich selbst reklamiert.
Der Begriff des Meisters kommt bei N. außerordentlich häufig vor (allein
in FW noch elfmal: FW 80, 436, 30; FW 87, 445, 25; FW 92, 447, 20 u. 448, 19;
FW 99, 453, 23; FW 106, 463, 21; FW 138, 488, 24; FW 281, 525, 10; FW 303, 542,
1; FW 354, 591, 3; FW 361, 608, 27; FW 366, 615, 15 u. 28 - ein weiteres Mal
sogar in der weiblichen Form „Meisterin": FW 152, 495, 29). Der „Meister" im
Motto-Gedicht weist, wie der zuvor implizit aufgerufene Genie-Begriff und im
Zusammenhang mit ihm, ebenfalls auf die Ästhetik um 1800 zurück. Das be-
kannte Schema Über den Dilettantismus etwa, das Goethe nach seiner Rück-
kehr aus Italien gemeinsam mit Schiller ausgearbeitet hat (siehe Goethe 1853-
1858, 31, 422-446), profiliert die ,Meisterschaft' als Gegenbegriff zum ,Dilettan-
tismus' und bezeichnet mit ihr die gerade auch handwerkliche Beherrschung
von Kunstregeln, gegen die sich das ältere Geniekonzept mit seinem Pochen
auf schöpferische, regellose Autonomie noch stemmte (vgl. Vaget 1971, 68, der
zeigt, dass mit dem Eintritt in die Epoche der Weimarer Klassik „in Goethes
Künstlertypologie der Meister gleichsam offiziell und theoretisch begründet an
die Stelle des Genies getreten" ist). Auch wenn hierbei die in N.s Gedicht her-
vorgehobene Selbstironie keine zentrale Rolle spielt, wird doch der damit ver-
bundene Aspekt der Zurücknahme der eigenen Subjektivität deutlich: Die Fi-
xierung des Genies auf sich selbst („Hast du nicht alles selbst vollendet, /
Heilig glühend Herz?", ruft Goethes Prometheus aus; Goethe 1853-1858, 2, 63)
wird im Konzept der Meisterschaft durch eine Orientierung an objektiven Re-
geln ersetzt, die es souverän zu beherrschen gilt. Einen Reflex auf dieses klassi-
sche Verständnis der Meisterschaft gibt FW 366, wo das sprechende Ich die
„Gelehrten" (614, 21 f.) dafür ,segnet', ,,[d]ass euer einziger Wille ist, Meister
eures Handwerks zu werden, in Ehrfurcht vor jeder Art Meisterschaft und Tüch-
tigkeit und mit rücksichtslosester Ablehnung alles Scheinbaren, Halbächten,
Aufgeputzten, Virtuosenhaften, Demagogischen, Schauspielerischen in litteris
et artibus - alles Dessen, was in Hinsicht auf unbedingte Probität von Zucht
und Vorschulung sich nicht vor euch ausweisen kann!" (615, 28-616, 1)
In diesem Passus aus FW 366 klingt ein weiterer Aspekt des Meister-Be-
griffs an, der neben dem der Selbstzurücknahme in N.s Motto-Gedicht ebenfalls
eine wichtige Rolle spielt: die Vorbildfunktion des Meisters, der zugleich Lehr-
 
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