100 Die fröhliche Wissenschaft
hiermit auch den Beginn von FW Vorrede 2. Wenn N. das erstere Notat unter
den Titel „Vorreden und Nachreden" stellt und im letzteren das Tempo-
raladverb „damals" benutzt, so ist beides auch unmittelbar aufschlussreich für
FW Vorrede. Auch bei ihr handelt es sich - zeitlich gesehen - um eine ,Nachre-
de', da sie laut Datierung „im Herbst 1886" (352, 33) für die Neuausgabe ver-
fasst worden ist. Wenn die Vorrede also vom ,Entstehungs-Erlebnis' handelt,
dem sich FW verdanke, dann blickt sie auf ein ca. fünf Jahre in der Vergangen-
heit liegendes Geschehen zurück. Dies erklärt auch die häufige Verwendung
des Präteritums, die jedoch oft durch ein Sprechen im Präsens und sogar im
Futur überlagert wird, was das Verständnis der temporalen Struktur der Aussa-
gen nicht unerheblich erschwert.
Als ,Gegentext' zu FW Vorrede 1 (sowie damit zu den zitierten Nachlass-
Notaten) lässt sich im Hinblick auf die Bedeutung des persönlichen Erlebnisses
für die Werkentstehung GM Vorrede 1 lesen, wo das Autor-Wir bzw. -Ich laut
Datierung „im Juli 1887" (KSA 5, 256, 9) erklärt, kein sonderliches Interesse
an Erlebnissen zu haben: „Was das Leben sonst, die sogenannten ,Erlebnisse'
angeht, - wer von uns hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei
solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht ,bei der Sache': wir haben
eben unser Herz nicht dort - und nicht einmal unser Ohr!" (KSA 5, 247, 11-
15) In gewisser Spannung zu diesem angeblichen Desinteresse an Erlebnissen
verordnet sich N. im Brief an Overbeck vom 30. August 1887 eine strikte Erleb-
nisabstinenz, was doch gerade für eine gewisse Verführbarkeit durch Erlebnis-
se spricht: „ich muß mich absolut auf mich zurückziehn und abwarten, bis ich
die letzte Frucht von meinem Baume schütteln darf. Keine Erlebnisse;
nichts von außen her" (KSB 8/KGB III 5, Nr. 900, S. 140, Z. 63-65). Vgl. hier-
zu NK 5/2, S. 56 f., wo darauf hingewiesen wird, dass - im Gegensatz zu derarti-
gen Verlautbarungen - in der Dritten Abhandlung von GM mehrmals für ,star-
ke Erlebnisse' plädiert wird.
345, 8 Sprache des Thauwinds] Diese meteorologische Metaphorik, die der
poetologischen Charakterisierung des nachstehenden Werks dient, wird im
Folgenden noch fortgesetzt („Aprilwetter", 345, 9; „Winter", 345, 11), um das
ihm vorgeblich zugrunde liegende ,Erlebnis' der ,Genesung' zu umschreiben.
Die - erst im zweiten Abschnitt der Vorrede explizit genannte, aber schon vor-
her implizit thematische - „Krankheit" (347, 7) erscheint unter anderem als
winterliche „Vereisung" (346, 8), die der personifizierte „Thauwind[]" beendet
haben soll. Allerdings wird der Leser sogleich jeder Gewissheit beraubt, ob
diese merkwürdige meteorologische Metapher überhaupt die Sache treffe: „Es
scheint" (345, 7 f.) nämlich nur so, als sei das Buch in dieser Wind-und-Wetter-
Sprache geschrieben. Der „Thauwind" kommt in verschieden flektierten For-
men laut eKGWB bei N. in 14 Texteinheiten vor. Die erste Nennung stammt aus
hiermit auch den Beginn von FW Vorrede 2. Wenn N. das erstere Notat unter
den Titel „Vorreden und Nachreden" stellt und im letzteren das Tempo-
raladverb „damals" benutzt, so ist beides auch unmittelbar aufschlussreich für
FW Vorrede. Auch bei ihr handelt es sich - zeitlich gesehen - um eine ,Nachre-
de', da sie laut Datierung „im Herbst 1886" (352, 33) für die Neuausgabe ver-
fasst worden ist. Wenn die Vorrede also vom ,Entstehungs-Erlebnis' handelt,
dem sich FW verdanke, dann blickt sie auf ein ca. fünf Jahre in der Vergangen-
heit liegendes Geschehen zurück. Dies erklärt auch die häufige Verwendung
des Präteritums, die jedoch oft durch ein Sprechen im Präsens und sogar im
Futur überlagert wird, was das Verständnis der temporalen Struktur der Aussa-
gen nicht unerheblich erschwert.
Als ,Gegentext' zu FW Vorrede 1 (sowie damit zu den zitierten Nachlass-
Notaten) lässt sich im Hinblick auf die Bedeutung des persönlichen Erlebnisses
für die Werkentstehung GM Vorrede 1 lesen, wo das Autor-Wir bzw. -Ich laut
Datierung „im Juli 1887" (KSA 5, 256, 9) erklärt, kein sonderliches Interesse
an Erlebnissen zu haben: „Was das Leben sonst, die sogenannten ,Erlebnisse'
angeht, - wer von uns hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei
solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht ,bei der Sache': wir haben
eben unser Herz nicht dort - und nicht einmal unser Ohr!" (KSA 5, 247, 11-
15) In gewisser Spannung zu diesem angeblichen Desinteresse an Erlebnissen
verordnet sich N. im Brief an Overbeck vom 30. August 1887 eine strikte Erleb-
nisabstinenz, was doch gerade für eine gewisse Verführbarkeit durch Erlebnis-
se spricht: „ich muß mich absolut auf mich zurückziehn und abwarten, bis ich
die letzte Frucht von meinem Baume schütteln darf. Keine Erlebnisse;
nichts von außen her" (KSB 8/KGB III 5, Nr. 900, S. 140, Z. 63-65). Vgl. hier-
zu NK 5/2, S. 56 f., wo darauf hingewiesen wird, dass - im Gegensatz zu derarti-
gen Verlautbarungen - in der Dritten Abhandlung von GM mehrmals für ,star-
ke Erlebnisse' plädiert wird.
345, 8 Sprache des Thauwinds] Diese meteorologische Metaphorik, die der
poetologischen Charakterisierung des nachstehenden Werks dient, wird im
Folgenden noch fortgesetzt („Aprilwetter", 345, 9; „Winter", 345, 11), um das
ihm vorgeblich zugrunde liegende ,Erlebnis' der ,Genesung' zu umschreiben.
Die - erst im zweiten Abschnitt der Vorrede explizit genannte, aber schon vor-
her implizit thematische - „Krankheit" (347, 7) erscheint unter anderem als
winterliche „Vereisung" (346, 8), die der personifizierte „Thauwind[]" beendet
haben soll. Allerdings wird der Leser sogleich jeder Gewissheit beraubt, ob
diese merkwürdige meteorologische Metapher überhaupt die Sache treffe: „Es
scheint" (345, 7 f.) nämlich nur so, als sei das Buch in dieser Wind-und-Wetter-
Sprache geschrieben. Der „Thauwind" kommt in verschieden flektierten For-
men laut eKGWB bei N. in 14 Texteinheiten vor. Die erste Nennung stammt aus