Stellenkommentar FW Vorrede 4, KSA 3, S. 351-352 145
keit, daß man nicht Alles nackt sehn, / wiVlFe1; auch daß man nicht beim
Allem dabei sein, wi'o'll'e'; auch daß man nicht Alles ,wissen' Wi'o'll^ -erU...
Wie? tout / comprendre c’est tout pardonner? Im Gegentheil! (,Ist es wahr, daß
der liebe Gott bei überall zugegen 'ist?' sein will? 'sagte ein™ / kleines Mädchen
zu seiner Mutter: ich finde das unanständig' -) Man sollte die Scham besser in
Ehren halten, / mit der die Natur sich hinter Räthsel und bunte Ungewißheiten
versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, / das Gründe hat, ihre
,Gründe' nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden,
Baubo? ... Oh diese / Griechen! Sie verstanden sich darauf zu leben: dazu thut
Noth, bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen / zu bleiben, den Anschein
anzubeten, die Formen, die Töne, die Worte, 'den Augenblick' zu vergöttli-
chen! Diese Griechen waren / oberflächlich - aus Tiefe! Und kommen wir nicht
eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die / höchste und ge-
fährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus
umgesehn haben, die wir / von da aus - hinabgesehn haben? Sind wir nicht
eben darin - Griechen? 'Anbeter der Formen, der Töne, der Worte?' Eben da-
rum - Künstler? ..."
Die Mappe Mp XV enthält außerdem ein mit „2." überschriebenes, auf
„Herbst 1886" datiertes Blatt, das Formulierungen aus der soeben zitierten Vor-
stufe' aufnimmt und dessen Nummerierung nahelegt, dass zunächst noch eine
zweiteilige Vorrede geplant war: „Oh wenn ihr ganz begreifen könntet, / wa-
rum gerade wir die Kunst brauchen, eine spöttische, göttlich unbehelligte
Kunst, die wie eine helle Flamme in / einen unbewölkten Himmel hineinlodert!
Und weshalb wir jetzt 'wohl am wenigsten' nicht mehr jenen tragischen
'Schwärmern' Hanswürsten gleichen, / die Nachts Tempel unsicher machen,
Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten Gründen verdeckt ge-
halten / wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen müssen 'wollen.',
jenen 'Freiern' Freunden der Wahrheit um jeden Preis, den Roman=/tikern der
Erkenntniß! Ach, dies Gelüst ist uns vergangen, 'Nein, dieser schlechte Ge-
schmack' dieser 'u' Jünglings-Wahnsinn in der Liebe, dieser aegyptische 'ist
uns verleidet, dazu sind wir zu erfahren, zu' [gebrannt, zu tief ...J / Ernst,
dieser schauerliche ,Wille zur Wahrheit' macht uns Schrecken noch in der Erin-
nerung. Wir glauben nicht mehr daran, / daß Wahrheit noch Wahrheit bleibt,
wenn man ihr die Schleier abzieht, wir haben Gründe, dies zu glauben: ^ Heu-
te / gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, daß man nicht Alles nackt
sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles / verstehn und ,wissen' wolle.
r tV" (KGW IX 12, Mp XV, 96r, 24-42; vgl. auch Pichler 2016, 42.) Vgl. zum
ersten Teil des Notats ΝΚ Vorrede 2.
351, 32-34 Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr
lernen, gut zu vergessen, gut n icht-zu-wissen, als Künstler!] Dem schmerzgebo-
keit, daß man nicht Alles nackt sehn, / wiVlFe1; auch daß man nicht beim
Allem dabei sein, wi'o'll'e'; auch daß man nicht Alles ,wissen' Wi'o'll^ -erU...
Wie? tout / comprendre c’est tout pardonner? Im Gegentheil! (,Ist es wahr, daß
der liebe Gott bei überall zugegen 'ist?' sein will? 'sagte ein™ / kleines Mädchen
zu seiner Mutter: ich finde das unanständig' -) Man sollte die Scham besser in
Ehren halten, / mit der die Natur sich hinter Räthsel und bunte Ungewißheiten
versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, / das Gründe hat, ihre
,Gründe' nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden,
Baubo? ... Oh diese / Griechen! Sie verstanden sich darauf zu leben: dazu thut
Noth, bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen / zu bleiben, den Anschein
anzubeten, die Formen, die Töne, die Worte, 'den Augenblick' zu vergöttli-
chen! Diese Griechen waren / oberflächlich - aus Tiefe! Und kommen wir nicht
eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die / höchste und ge-
fährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus
umgesehn haben, die wir / von da aus - hinabgesehn haben? Sind wir nicht
eben darin - Griechen? 'Anbeter der Formen, der Töne, der Worte?' Eben da-
rum - Künstler? ..."
Die Mappe Mp XV enthält außerdem ein mit „2." überschriebenes, auf
„Herbst 1886" datiertes Blatt, das Formulierungen aus der soeben zitierten Vor-
stufe' aufnimmt und dessen Nummerierung nahelegt, dass zunächst noch eine
zweiteilige Vorrede geplant war: „Oh wenn ihr ganz begreifen könntet, / wa-
rum gerade wir die Kunst brauchen, eine spöttische, göttlich unbehelligte
Kunst, die wie eine helle Flamme in / einen unbewölkten Himmel hineinlodert!
Und weshalb wir jetzt 'wohl am wenigsten' nicht mehr jenen tragischen
'Schwärmern' Hanswürsten gleichen, / die Nachts Tempel unsicher machen,
Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten Gründen verdeckt ge-
halten / wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen müssen 'wollen.',
jenen 'Freiern' Freunden der Wahrheit um jeden Preis, den Roman=/tikern der
Erkenntniß! Ach, dies Gelüst ist uns vergangen, 'Nein, dieser schlechte Ge-
schmack' dieser 'u' Jünglings-Wahnsinn in der Liebe, dieser aegyptische 'ist
uns verleidet, dazu sind wir zu erfahren, zu' [gebrannt, zu tief ...J / Ernst,
dieser schauerliche ,Wille zur Wahrheit' macht uns Schrecken noch in der Erin-
nerung. Wir glauben nicht mehr daran, / daß Wahrheit noch Wahrheit bleibt,
wenn man ihr die Schleier abzieht, wir haben Gründe, dies zu glauben: ^ Heu-
te / gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, daß man nicht Alles nackt
sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles / verstehn und ,wissen' wolle.
r tV" (KGW IX 12, Mp XV, 96r, 24-42; vgl. auch Pichler 2016, 42.) Vgl. zum
ersten Teil des Notats ΝΚ Vorrede 2.
351, 32-34 Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr
lernen, gut zu vergessen, gut n icht-zu-wissen, als Künstler!] Dem schmerzgebo-