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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0170
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Stellenkommentar FW Vorrede 4, KSA 3, S. 351-352 147

im Heiligtum verschleiert gewesen sei: „Ich bin alles was ist, was gewesen ist,
und was seyn wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleyer aufgehoben."
(Schiller 1792-1793, 3, 358) Vgl. auch Schillers Schrift Die Sendung Moses von
1790 (Schiller 1844, 9, 269). Insbesondere bezieht sich N. hier auf Schillers Bal-
lade mit dem Titel Das verschleierte Bild zu Sais von 1795, die dieser in seiner
Zeitschrift Die Horen veröffentlichte (Schiller 1795-1797, 3, 94-98; zum kultur-
geschichtlichen Kontext der Ballade vgl. Assmann 1999). Das Gedicht handelt
von einem „Jüngling, den des Wissens heißer Durst / Nach Sais in Egypten
trieb, der Priester / Geheime Weißheit zu erlernen" (V. 1-3). Als ihm dort „ein
verschleiert Bild von Riesengröße" in die Augen fällt (V. 20), das „Die Wahr-
heit" zeige (V. 24), deren Entschleierung „mit ungeweihter [...] Hand" jedoch
verboten sei (V. 30), kann der Jüngling seinen Wissensdrang nicht zügeln:
Nachts schleicht er heimlich zu dem Bild und hebt nach einigen Gewissensbis-
sen den Schleier - mit der furchtbaren Konsequenz, die der Gedichtschluss
entfaltet: „Was er allda gesehen und erfahren / Hat seine Zunge nie bekannt.
Auf ewig / War seines Lebens Heiterkeit dahin, / Ihn riß ein tiefer Gram zum
frühen Grabe." (V. 78-81) Schiller gestaltet damit die Vorstellung von der Uner-
träglichkeit der Wahrheit für den unberufenen Menschen, wie er sie beispiels-
weise auch in seinem ästhetisch-geschichtsphilosophischen Langgedicht Die
Künstler (vgl. Schiller 1860, 85-100) zum Ausdruck gebracht hat.
Ein Gegenmodell hierzu entwickelt der Frühromantiker Novalis in seinem
Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais von 1798/99 (postum erschienen 1802).
Bei Novalis heißt es über den Schleier: „wer ihn nicht heben will, ist kein äch-
ter Lehrling zu Sais." (Novalis 1837-1846, 2, 60) Aus dem Jahr 1798 stammt
auch folgendes Distichon von Novalis, das den Topos des verschleierten Bildes
zu Sais mit dem Topos der Selbsterkenntnis (wie sie die Inschrift über dem
Apollo-Tempel zu Delphi forderte) verknüpft: „Einem gelang es - er hob den
Schleier der Göttin zu Sais - / Aber was sah er? - er sah - Wunder des Wun-
ders, sich selbst." (Novalis 1837-1846, 3, 109) Der weitere Verlauf des Gedan-
kengangs in FW Vorrede 4, der den unbedingten „Wille[n] zur Wahrheit" als
„schlechte[n] Geschmack" abqualifiziert (352, 5 f.), bekräftigt, dass das spre-
chende Wir - im Gegensatz zu Novalis - von der ,Entschleierung' der „Wahr-
heit" Abstand nimmt. Vgl. allerdings dagegen die ,Enthüllungs'-Phantasie in
FW 339.
Auf N. selbst bezieht Josef Victor Widmann den Entschleierungstopos in
seiner Rezension zu JGB, die am 16./17. September 1886 unter dem Titel Nietz-
sches gefährliches Buch in der Zeitschrift Der Bund erschienen war. Der
Schlusssatz von Widmanns Besprechung lautet: „Daher wird man Denjenigen,
der ,Gut' und ,Böse' antastet, wie Einen ansehen, der das verschleierte Bild
von Sais entweihend aufdeckt, auch wenn man logisch ihm Recht geben müß-
 
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