Stellenkommentar FW Vorrede 4, KSA 3, S. 352 149
in seiner persönlichen Bibliothek erhalten haben. Jedoch steht sie dort nicht
in philosophischen, sondern anderen Kontexten - Wahrmund 1859, 84 z. B.
spricht vom „Willen zur Wahrheit" des Historikers Polybios. Vgl. hierzu auch
Jenkins 2012. Seit dem Sommer 1882 begegnet die Formel in N.s Nachlass häufi-
ger, im veröffentlichten Werk abgesehen von FW V auch in Za II, JGB und GM.
Zumeist wird sie kritisch verwandt, um das wissenschaftliche Wahrheitsstre-
ben auf die platonische Metaphysik zurückzuführen, wonach es eine transzen-
dente Welt des an sich Seienden und Wahren gebe, die es philosophisch zu
erkennen gilt. So heißt es beispielsweise gegen Ende von FW 344 in durchaus
selbstkritischer Absicht, „dass es immer noch ein metaphysischer Glau-
be ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, - dass auch wir Erken-
nenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer
noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet
hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato's war, dass Gott die
Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist ..." (577, 8-15) Das in FW Vorrede 4
sprechende Wir zieht die Konsequenz hieraus und verabschiedet den Wahr-
heitswillen, um sich stattdessen dem künstlerischen Schein zuzuwenden.
352, 9-11 Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt,
wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben.]
Anders als in Schillers poetischer Gestaltung des Sais-Mythos (vgl. NK 351, 34-
352, 5) wird an dieser Stelle nicht auf die Schrecklichkeit und Unerträglichkeit
der unverhüllten Wahrheit abgehoben, sondern auf eine dialektische Einheit
von Wahrheit und Schleier: Die Wahrheit ist demnach als solche auf Verschlei-
erung angewiesen, wie das das Sprecher-Wir unter Berufung auf seine Lebens-
geschichte verkündet. Dabei zeigt sich an der temporalen Formulierung „nicht
mehr" abermals, dass es sich um einen jüngeren (Un-)Glaubensgrundsatz han-
delt. Zugleich stellt dieses Bekenntnis zur ,verschleierten Wahrheit' einen Ge-
genentwurf zur damit indirekt aufgerufenen Denkfigur der ,nackten Wahrheit',
der nuda veritas, dar - einem, wie der Sais-Mythos, ebenfalls in die Antike
zurückreichenden Topos (vgl. Horaz: Carmina 1, 24, 7), der in der Neuzeit viel-
fach aktualisiert wurde (vgl. Konersmann 2004 und mit starkem N.-Bezug Blu-
menberg 2019). Dies betrifft nicht nur die bildende Kunst - man denke etwa
an Sandro Botticellis berühmtes Gemälde Die Verleumdung des Appelles (1494/
95) oder die Darstellung der „Veritä" in Cesare Ripas Iconologia (1603) -, son-
dern auch und gerade die Philosophie. Besonders nachdrücklich gestaltet He-
gel diesen Topos, wenn er in der „Einleitung" zu seiner Wissenschaft der Logik
(1812) selbstgewiss schreibt, dieses Werk enthalte „die Wahrheit, wie sie
ohne Hülle an und für sich selbst ist" (Hegel 1832-1845, 3, 36). Auch
Schopenhauer, der dies entschieden bestritten hätte, zeigt eine Vorliebe für die
in seiner persönlichen Bibliothek erhalten haben. Jedoch steht sie dort nicht
in philosophischen, sondern anderen Kontexten - Wahrmund 1859, 84 z. B.
spricht vom „Willen zur Wahrheit" des Historikers Polybios. Vgl. hierzu auch
Jenkins 2012. Seit dem Sommer 1882 begegnet die Formel in N.s Nachlass häufi-
ger, im veröffentlichten Werk abgesehen von FW V auch in Za II, JGB und GM.
Zumeist wird sie kritisch verwandt, um das wissenschaftliche Wahrheitsstre-
ben auf die platonische Metaphysik zurückzuführen, wonach es eine transzen-
dente Welt des an sich Seienden und Wahren gebe, die es philosophisch zu
erkennen gilt. So heißt es beispielsweise gegen Ende von FW 344 in durchaus
selbstkritischer Absicht, „dass es immer noch ein metaphysischer Glau-
be ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, - dass auch wir Erken-
nenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer
noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet
hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato's war, dass Gott die
Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist ..." (577, 8-15) Das in FW Vorrede 4
sprechende Wir zieht die Konsequenz hieraus und verabschiedet den Wahr-
heitswillen, um sich stattdessen dem künstlerischen Schein zuzuwenden.
352, 9-11 Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt,
wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben.]
Anders als in Schillers poetischer Gestaltung des Sais-Mythos (vgl. NK 351, 34-
352, 5) wird an dieser Stelle nicht auf die Schrecklichkeit und Unerträglichkeit
der unverhüllten Wahrheit abgehoben, sondern auf eine dialektische Einheit
von Wahrheit und Schleier: Die Wahrheit ist demnach als solche auf Verschlei-
erung angewiesen, wie das das Sprecher-Wir unter Berufung auf seine Lebens-
geschichte verkündet. Dabei zeigt sich an der temporalen Formulierung „nicht
mehr" abermals, dass es sich um einen jüngeren (Un-)Glaubensgrundsatz han-
delt. Zugleich stellt dieses Bekenntnis zur ,verschleierten Wahrheit' einen Ge-
genentwurf zur damit indirekt aufgerufenen Denkfigur der ,nackten Wahrheit',
der nuda veritas, dar - einem, wie der Sais-Mythos, ebenfalls in die Antike
zurückreichenden Topos (vgl. Horaz: Carmina 1, 24, 7), der in der Neuzeit viel-
fach aktualisiert wurde (vgl. Konersmann 2004 und mit starkem N.-Bezug Blu-
menberg 2019). Dies betrifft nicht nur die bildende Kunst - man denke etwa
an Sandro Botticellis berühmtes Gemälde Die Verleumdung des Appelles (1494/
95) oder die Darstellung der „Veritä" in Cesare Ripas Iconologia (1603) -, son-
dern auch und gerade die Philosophie. Besonders nachdrücklich gestaltet He-
gel diesen Topos, wenn er in der „Einleitung" zu seiner Wissenschaft der Logik
(1812) selbstgewiss schreibt, dieses Werk enthalte „die Wahrheit, wie sie
ohne Hülle an und für sich selbst ist" (Hegel 1832-1845, 3, 36). Auch
Schopenhauer, der dies entschieden bestritten hätte, zeigt eine Vorliebe für die