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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0173
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150 Die fröhliche Wissenschaft

nuda veritas: „Die Wahrheit ist nackt am schönsten" (Schopenhauer 1873-1874,
6, 559). Zumindest strukturell weist die gegen ein derartiges Ideal der unver-
schleierten, ,absoluten' Wahrheit sich richtende Argumentation in FW Vorrede
4 auf Heideggers Verständnis der Wahrheit als „Einheit von Lichtung und Ver-
bergung" voraus, worauf Heidegger selbst in seinen Seminar-Notizen zu Nietz-
sches metaphysischer Grundstellung (Sein und Schein) von 1937 hindeutet (vgl.
NK 352, 20).
Die unverhüllte Wahrheit zu Gesicht bekommen zu haben, behauptet aller-
dings Zarathustra in Za II Von grossen Ereignissen, KSA 4, 168, 21 f.: „ich habe
die Wahrheit nackt gesehn, wahrlich! barfuss bis zum Halse." Nicht nur den
Glauben an die nackte Wahrheit, sondern an die Wahrheit überhaupt verwirft
das sprechende Ich in GM III 24 - zumindest für ,freie Geister': „Das sind noch
lange keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit
..." (KSA 5, 399, 10-12)
352, 14 f. „Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist?" fragte ein kleines
Mädchen seine Mutter: „aber ich finde das unanständig"] Eine Vorstufe' in Heft
WI 8 lautet in der Grundschicht: „Der psycholog. Kritiker: wie jenes kleine
Mädchen zu seiner Mutter sagt: / sagte: ,wie? Mama, ist das wahr, daß der
liebe Gott überall ist? Daß er / Alles sieht? Aber das finde ich unanständig.'"
(KGW IX 5, W I 8, 54, 2-6; Notat gekreuzt durchgestrichen.) Der Passus spielt
auf die biblisch-christliche Vorstellung von der Allgegenwart (ubiquitas) und
Allwissenheit (omniscientia) Gottes an; vgl. beispielsweise Psalm 139, 1-7, Jere-
mia 17, 10 u. Lukas 8, 17. Im Hebräerbrief heißt es: „Und ist keine Creatur vor
ihm unsichtbar, es ist aber alles bloß und entdeckt vor seinen Augen" (Hebräer
4, 13 = Die Bibel: Neues Testament 1818, 275). An diese Stelle mag N. besonders
gedacht haben, enthält sie doch bereits das Motiv der ,Blöße', d. h. der Nackt-
heit. Vgl. Konersmann 2004, 147: „Es ist offenkundig dieses Motiv der totalen
Transparenz alles Irdischen vor Gott, dem die älteste der bekannten, [...] auf
die Mitte des 14. Jh. datierten Bilddarstellungen der n[ackten] W[ahrheit] ver-
pflichtet ist." Dagegen identifiziert sich das sprechende Wir in FW Vorrede mit
jenem klugen Mädchen, das diese Vorstellung einfach nur „unanständig" fin-
det - Gott als indiskreter Voyeur. Schon in der Erstausgabe von FW hat Gott
jedoch seine allwissende Allgegenwart eingebüßt (vgl. FW 9, 381, 18-20), bevor
schließlich sein Tod bekanntgegeben wird (vgl. FW 108, FW 125 u. FW 343).
352, 16 ein Wink für Philosophen] Im Druckmanuskript nachträglich eingefügt
(vgl. D 16a, 5). Dass die ,Unanständigkeit' der allwissenden Allgegenwart Got-
tes „ein Wink für Philosophen" sein soll, verweist auf den philosophischen
,Willen zur Wahrheit', den das Autor-Wir (inzwischen) ablehnt. Zum (falschen)
Anspruch der ,bisherigen' Philosophen, die „Wahrheit" zu erkennen, vgl. be-
 
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