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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0174
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Stellenkommentar FW Vorrede 4, KSA 3, S. 352 151

reits den Schluss von FW Vorrede 2 (349, 11-14). Insbesondere ist bei den philo-
sophischen Aspiranten auf göttliche Allwissenheit an Hegel zu denken, der in
der Einleitung zu seiner Wissenschaft der Logik nicht nur die Erkenntnis der
hüllenlosen Wahrheit beansprucht (vgl. NK 352, 9-11), sondern in eins damit
auch „die Darstellung Gottes [...], wie er in seinem ewigen We-
sen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geis-
tes ist" (Hegel 1832-1845, 3, 36). Hegel beansprucht damit nicht ,nur', die
nackte Wahrheit vor sich zu haben und sie ganz zu durchdringen, sondern
darüber hinaus sogar den weltentkleideten, völlig transparenten Gott selbst -
was in der Logik des klugen kleinen Mädchens aus 352, 14 f. wohl erst recht
„unanständig" wäre.
352, 16-18 Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur
hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt] Anspielung auf Heraklits
Fragment: ,,φύσις κρύπτεσθαι φιλεΐ." - „Die Natur (das Wesen) liebt es sich zu
verbergen." (Diels/Kranz 1956, 22 B 123) Durch die Anführung des Schamge-
fühls als Grund für die Kryptophilie der Natur, von dem bei Heraklit nirgends
die Rede ist, hat sich die ,Argumentation' gegenüber 352, 9 f. verschoben: von
der dialektischen Identität von Wahrheit und Schleier hin zum Schamgefühl
einer anthropomorphisierten Natur, die sich gern hinter allerlei Geheimnissen
versteckt. Dass „Natur" und „Wahrheit" hier freilich als austauschbare Begriffe
fungieren, wird deutlich, wenn schon im nächsten Satz direkt wieder von der
Wahrheit die Rede ist.
Die Natur-Rätsel-Metaphorik war zu N.s Zeit allgemein sehr populär, vgl.
etwa Emil Du Bois-Reymonds bekannten Vortrag Die sieben Welträthsel von
1880, den N. besaß (siehe NK 594, 18).
352, 18 f. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht
sehn zu lassen?) Diese rhetorische Frage greift die metaphorische Assoziation
von „Weib" und „Wahrheit" auf, die in N.s Schriften häufiger begegnet, so z. B.
in MA I 257, KSA 2, 212, 17-21 („jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der
Wissenschaft und pflegen der Wahrheit wie einem schönen Mädchen nachzu-
gehen; wie aber, wenn sie eines Tages zum ältlichen, mürrisch blickenden Wei-
be geworden ist?"), in Za I Von alten und jungen Weiblein, KSA 4, 84, 8 f. u.
86, 12-15 oder in JGB Vorrede, KSA 5, 11, 2, wo es ähnlich hypothetisch heißt:
„Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist [...]" (vgl. hierzu NK 5/1, S. 47 f.).
In NW Epilog 2, KSA 6, 439, 6-8 kommt dieselbe Formulierung vor. Auch in
GM III 24, 400, 23-25 wird „die Wahrheit" wie selbstverständlich als „Frauen-
zimmer" angesprochen. Zu dieser Metapher insgesamt vgl. Babich 1996. Aller-
dings gibt es bei N. auch Äußerungen, die „Weib" und „Wahrheit" als Gegen-
satz begreifen, vgl. etwa JGB 232, KSA 5, 170-172.
 
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