152 Die fröhliche Wissenschaft
Eine gewisse Parallele zu Richard Wagners Identifizierung der Musik als
Weib, die N. an anderer Stelle zitiert (vgl. NK KSA 6, 424, 17) und auch in
der Überschrift von FW 63 alludiert, mag in der Personifikation der weiblichen
Wahrheit erkennbar sein, näherhin bezieht sich diese jedoch auf eine Traditi-
on, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt. Vor dem Hintergrund des
Topos der ,nackten Wahrheit' (vgl. NK 352, 9-11) gibt es in der älteren Literatur
mehrere Darstellungen der zum „Weib" personifizierten Wahrheit. So taucht
die als „Weib" vorgestellte Wahrheit beispielsweise bereits im Barock auf, näm-
lich in einem Sinngedicht Friedrich von Logaus (Deutscher Sinn-Getichte Drey
Tausend: Deß Ersten Tausend Drittes Hundert, Nr. 12): „Blosse Warheit. / Die
Warheit ist ein Weib das zwar kein Laster kennt / Doch / weil sie nackt und
bloß / so wird sie sehr geschändt." (Logau 1654, 53) N. kannte Logau mögli-
cherweise vermittelt durch die Novellensammlung Das Sinngedicht (1881) von
Gottfried Keller (den N. sehr schätzte), in der ein Gedicht Logaus eine zentrale
Rolle spielt und in der Ausgabe Lessings (deren Vorwort in N.s Lessing-Werk-
ausgabe abgedruckt ist; vgl. Lessing 1867, 8, 140-145) wörtlich zitiert wird: „Es
war ein Band der Lachmann'sehen Lessingausgabe und zwar der, in welchem
die Sinngedichte des Friedrich von Logau stehen, und wie Reinhart ihn auff-
schlug, fiel ihm dieser Spruch in die Augen: // Wie willst du weiße Lilien zu
rothen Rosen machen? / Küß eine weiße Galathee: sie wird erröthend lachen."
(Keller 1882, 8; vgl. auch Logau 1654, 175 sowie Lessing 1838, 188)
Während bei Logau die weibliche Wahrheit als bloßes Opfer (männlicher)
sexueller Gewalt erscheint, kann sie bei anderen Autoren auch als der überle-
gene Part auftreten. So etwa bei Schopenhauer, der in seiner Vorrede zur zwei-
ten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung zwar ebenfalls mit der sexuellen
Dimension jener Allegorie spielt, allerdings gerade die ,Sprödigkeit' der „Schö-
ne[n]" betont: „Die Wahrheit ist keine Hure, die sich Denen an den Hals wirft,
welche ihrer nicht begehren: vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst
wer ihr Alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß seyn darf." (Schopenhauer
1873-1874, 2, XVIII) Abhängig vom männlichen Verhalten wiederum präsen-
tiert sich die Wahrheit bei Gumpach 1860, 21 als dominantes oder devotes
„Weib": „Die Wahrheit ist ein Weib. Wen sie am Gängelbande führt, der muss
sich zu gar seltsamen Sprüngen bequemen; wem es gelingt sie mit kräftigem
Arm zu erfassen, ihm ergiebt sie sich willig und leicht." Damit wird Logaus
Klage über die Vergewaltigung der weiblichen Wahrheit ins Positive gewendet.
In N.s Nachlass findet sich ein Gedichtentwurf von 1888, der ähnlich darauf
hinausläuft, dass die Wahrheit mit „Gewalt" von den „Weisesten" gezwungen
werden muss, sich zu entblößen: „Die Wahrheit - / ein Weib, nichts Besseres: /
arglistig in ihrer Scham: / was sie am liebsten möchte, / sie will's nicht wis-
sen, / sie hält die Finger vor ... / Wem giebt sie nach? Der Gewalt allein! - / So
braucht Gewalt, / seid hart, ihr Weisesten! / ihr müßt sie zwingen / die ver-
Eine gewisse Parallele zu Richard Wagners Identifizierung der Musik als
Weib, die N. an anderer Stelle zitiert (vgl. NK KSA 6, 424, 17) und auch in
der Überschrift von FW 63 alludiert, mag in der Personifikation der weiblichen
Wahrheit erkennbar sein, näherhin bezieht sich diese jedoch auf eine Traditi-
on, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt. Vor dem Hintergrund des
Topos der ,nackten Wahrheit' (vgl. NK 352, 9-11) gibt es in der älteren Literatur
mehrere Darstellungen der zum „Weib" personifizierten Wahrheit. So taucht
die als „Weib" vorgestellte Wahrheit beispielsweise bereits im Barock auf, näm-
lich in einem Sinngedicht Friedrich von Logaus (Deutscher Sinn-Getichte Drey
Tausend: Deß Ersten Tausend Drittes Hundert, Nr. 12): „Blosse Warheit. / Die
Warheit ist ein Weib das zwar kein Laster kennt / Doch / weil sie nackt und
bloß / so wird sie sehr geschändt." (Logau 1654, 53) N. kannte Logau mögli-
cherweise vermittelt durch die Novellensammlung Das Sinngedicht (1881) von
Gottfried Keller (den N. sehr schätzte), in der ein Gedicht Logaus eine zentrale
Rolle spielt und in der Ausgabe Lessings (deren Vorwort in N.s Lessing-Werk-
ausgabe abgedruckt ist; vgl. Lessing 1867, 8, 140-145) wörtlich zitiert wird: „Es
war ein Band der Lachmann'sehen Lessingausgabe und zwar der, in welchem
die Sinngedichte des Friedrich von Logau stehen, und wie Reinhart ihn auff-
schlug, fiel ihm dieser Spruch in die Augen: // Wie willst du weiße Lilien zu
rothen Rosen machen? / Küß eine weiße Galathee: sie wird erröthend lachen."
(Keller 1882, 8; vgl. auch Logau 1654, 175 sowie Lessing 1838, 188)
Während bei Logau die weibliche Wahrheit als bloßes Opfer (männlicher)
sexueller Gewalt erscheint, kann sie bei anderen Autoren auch als der überle-
gene Part auftreten. So etwa bei Schopenhauer, der in seiner Vorrede zur zwei-
ten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung zwar ebenfalls mit der sexuellen
Dimension jener Allegorie spielt, allerdings gerade die ,Sprödigkeit' der „Schö-
ne[n]" betont: „Die Wahrheit ist keine Hure, die sich Denen an den Hals wirft,
welche ihrer nicht begehren: vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst
wer ihr Alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß seyn darf." (Schopenhauer
1873-1874, 2, XVIII) Abhängig vom männlichen Verhalten wiederum präsen-
tiert sich die Wahrheit bei Gumpach 1860, 21 als dominantes oder devotes
„Weib": „Die Wahrheit ist ein Weib. Wen sie am Gängelbande führt, der muss
sich zu gar seltsamen Sprüngen bequemen; wem es gelingt sie mit kräftigem
Arm zu erfassen, ihm ergiebt sie sich willig und leicht." Damit wird Logaus
Klage über die Vergewaltigung der weiblichen Wahrheit ins Positive gewendet.
In N.s Nachlass findet sich ein Gedichtentwurf von 1888, der ähnlich darauf
hinausläuft, dass die Wahrheit mit „Gewalt" von den „Weisesten" gezwungen
werden muss, sich zu entblößen: „Die Wahrheit - / ein Weib, nichts Besseres: /
arglistig in ihrer Scham: / was sie am liebsten möchte, / sie will's nicht wis-
sen, / sie hält die Finger vor ... / Wem giebt sie nach? Der Gewalt allein! - / So
braucht Gewalt, / seid hart, ihr Weisesten! / ihr müßt sie zwingen / die ver-