Stellenkommentar FW Vorrede 4, KSA 3, S. 352 153
schämte Wahrheit ... / zu ihrer Seligkeit / braucht's des Zwanges - / - sie ist
ein Weib, nicht(s) Besseres ..." (NL 1888, 20[48], KSA 13, 557, 18-558, 4) Diese
misogyne Vergewaltigungsphantasie steht der in FW Vorrede 4 proklamierten
Zurückhaltung gegenüber der ,weiblichen' Wahrheit diametral entgegen.
Das Wortspiel von den „Gründe[n]" der weiblichen Wahrheit, „ihre Gründe
nicht sehn zu lassen", treibt ein mehrdeutiges Spiel mit dem Wort „Gründe",
das bekräftigend und variierend an die frühere Passage über jene „ägyptischen
Jünglinge" anschließt, die „durchaus Alles, was mit guten Gründen verdeckt
gehalten wird, entschleiern" wollen (352, 1-4). Liest man die Frage vor dem
Hintergrund dessen, was zuvor über „die Scham" (352, 16) gesagt wurde, die
ja selbst schon doppeldeutig ist (Schamgefühl und Schamgegend), so liegt es
nahe, bei den mit guten Gründen (im kausalen, motivationalen Sinn) zu ver-
bergenden „Gründe[n]" des ,Weibes' Wahrheit an die weiblichen Genitalien zu
denken (vgl. hierzu Hadot 2006, 293 f.). Zugleich erinnern diese „Gründe" an
die traditionellen metaphysischen Wahrheits-, Seins- und Erkenntnisgründe
bzw. umgekehrt an die zu Beginn des Abschnitts erwähnten „Abgründe[]"
(351, 6) des Misstrauens. Allerdings bleibt die Frage offen, worin denn nun die
„Gründe" (Ursachen, Motive) der genannten weiblichen Wahrheit bestehen,
„ihre Gründe nicht sehn zu lassen". Ist die Wahrheit vielleicht ein junges, schö-
nes, aber zugleich verschämtes „Weib" - oder vielleicht ein altes, hässliches,
dessen Anblick abstößt? In den Schlusszeilen von FW Anhang „Im Süden"
äußert sich das lyrische Ich jedenfalls in diese Richtung: „Im Norden - ich
gesteh's mit Zaudern - / Liebt' ich ein Weibchen, alt zum Schaudern: / ,Die
Wahrheit' hiess dies alte Weib ..." (642, 9-11) Das in FW Vorrede 4 sprechende
Wir legt sich aber nicht so eindeutig fest; auf die Frage, ob die Wahrheit weib-
lich sei, folgt keine Antwort, sondern nur eine neue Frage, die weitere interpre-
tatorische Fragen aufwirft.
352, 20 Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?...] Diese weitere
Hypothese lässt sich zunächst als Bestätigung dafür lesen, dass man bei den
verhüllt zu lassenden „Gründen" der weiblichen Wahrheit (auch) an das Geni-
tale zu denken hat. Baubo ist in der griechischen Mythologie eine Begleiterin
der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und spielt besonders in den Eleusinischen
Mysterien eine Rolle. Der Name Βαυβώ wird etymologisch mit dem derben Verb
βαυβάω für „schlafen" und dem Substantiv βαύβαξ für „Beilager" (Passow
1841-1857, 1/1, 497) bzw. „Beischlaf" (ebd., 534) verbunden. Das Substantiv
βαυβώ selbst bedeutet „Schoß" oder „Vulva" (Graf 1974, 178; vgl. auch Graf
1997). In Goethes Faust I tritt unter dem Namen Baubo eine obszöne Hexenge-
stalt auf (vgl. V. 3962-3967; Goethe 1876, 190). Bei N. kommt Baubo nur an
dieser Stelle bzw. in ihrer wortidentischen Wiederholung von NW Epilog 2,
KSA 6, 439, 9 vor (vgl. Pieper 2014, 17 f.). Wie auch in NK 6/2, S. 788 f. vermerkt,
schämte Wahrheit ... / zu ihrer Seligkeit / braucht's des Zwanges - / - sie ist
ein Weib, nicht(s) Besseres ..." (NL 1888, 20[48], KSA 13, 557, 18-558, 4) Diese
misogyne Vergewaltigungsphantasie steht der in FW Vorrede 4 proklamierten
Zurückhaltung gegenüber der ,weiblichen' Wahrheit diametral entgegen.
Das Wortspiel von den „Gründe[n]" der weiblichen Wahrheit, „ihre Gründe
nicht sehn zu lassen", treibt ein mehrdeutiges Spiel mit dem Wort „Gründe",
das bekräftigend und variierend an die frühere Passage über jene „ägyptischen
Jünglinge" anschließt, die „durchaus Alles, was mit guten Gründen verdeckt
gehalten wird, entschleiern" wollen (352, 1-4). Liest man die Frage vor dem
Hintergrund dessen, was zuvor über „die Scham" (352, 16) gesagt wurde, die
ja selbst schon doppeldeutig ist (Schamgefühl und Schamgegend), so liegt es
nahe, bei den mit guten Gründen (im kausalen, motivationalen Sinn) zu ver-
bergenden „Gründe[n]" des ,Weibes' Wahrheit an die weiblichen Genitalien zu
denken (vgl. hierzu Hadot 2006, 293 f.). Zugleich erinnern diese „Gründe" an
die traditionellen metaphysischen Wahrheits-, Seins- und Erkenntnisgründe
bzw. umgekehrt an die zu Beginn des Abschnitts erwähnten „Abgründe[]"
(351, 6) des Misstrauens. Allerdings bleibt die Frage offen, worin denn nun die
„Gründe" (Ursachen, Motive) der genannten weiblichen Wahrheit bestehen,
„ihre Gründe nicht sehn zu lassen". Ist die Wahrheit vielleicht ein junges, schö-
nes, aber zugleich verschämtes „Weib" - oder vielleicht ein altes, hässliches,
dessen Anblick abstößt? In den Schlusszeilen von FW Anhang „Im Süden"
äußert sich das lyrische Ich jedenfalls in diese Richtung: „Im Norden - ich
gesteh's mit Zaudern - / Liebt' ich ein Weibchen, alt zum Schaudern: / ,Die
Wahrheit' hiess dies alte Weib ..." (642, 9-11) Das in FW Vorrede 4 sprechende
Wir legt sich aber nicht so eindeutig fest; auf die Frage, ob die Wahrheit weib-
lich sei, folgt keine Antwort, sondern nur eine neue Frage, die weitere interpre-
tatorische Fragen aufwirft.
352, 20 Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?...] Diese weitere
Hypothese lässt sich zunächst als Bestätigung dafür lesen, dass man bei den
verhüllt zu lassenden „Gründen" der weiblichen Wahrheit (auch) an das Geni-
tale zu denken hat. Baubo ist in der griechischen Mythologie eine Begleiterin
der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und spielt besonders in den Eleusinischen
Mysterien eine Rolle. Der Name Βαυβώ wird etymologisch mit dem derben Verb
βαυβάω für „schlafen" und dem Substantiv βαύβαξ für „Beilager" (Passow
1841-1857, 1/1, 497) bzw. „Beischlaf" (ebd., 534) verbunden. Das Substantiv
βαυβώ selbst bedeutet „Schoß" oder „Vulva" (Graf 1974, 178; vgl. auch Graf
1997). In Goethes Faust I tritt unter dem Namen Baubo eine obszöne Hexenge-
stalt auf (vgl. V. 3962-3967; Goethe 1876, 190). Bei N. kommt Baubo nur an
dieser Stelle bzw. in ihrer wortidentischen Wiederholung von NW Epilog 2,
KSA 6, 439, 9 vor (vgl. Pieper 2014, 17 f.). Wie auch in NK 6/2, S. 788 f. vermerkt,