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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0178
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Stellenkommentar FW Vorrede 4, KSA 3, S. 352 155

Die eigentümliche Pointe des Rekurses auf dieses Mythologem in FW Vor-
rede 4 besteht freilich darin, dass hier gerade aus der - hypothetisch formulier-
ten - Identifikation des ,Weibes Wahrheit' mit Baubo abgeleitet wird, dass sie
ihre Genitalien („ihre Gründe") gerade nicht zeigen will bzw. soll. Damit er-
scheint ihre Nennung aber zunächst unverständlich, unlogisch (vgl. Hadot
2006, 295). Der Name Baubo scheint sich keineswegs zur Bezeichnung einer
als Weib gedachten Wahrheit zu eignen, die „Gründe hat, ihre Gründe nicht
sehn zu lassen"; verschleiert sich die entsprechende mythische Figur doch
eben nicht schamhaft, sondern präsentiert ihre glattrasierte Vulva ganz unge-
niert. Auch die über die Rede von den „Gründen" hergestellte Verknüpfung mit
dem Sais-Mythos scheint nicht zu funktionieren. Die von Schiller dargestellten
Folgen der Entschleierung des Isis-Bildes - Verlust der Heiterkeit, tiefer Gram -
passen als Kontrastfolie zwar gut zu der auf einem schmerzlichen ,Zu-gut-
Wissen' beruhenden Ankündigung des sprechenden Wir in FW Vorrede 4,
„schwerlich wieder auf den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge" zu wandeln
(352, I f.), die auf die wahrheitssuchenden Philosophen anspielen. Sie passen
aber schlecht zu der im weiteren Verlauf der Vorrede - wenn auch nur unter
hypothetischen Vorzeichen - erfolgenden Identifizierung der Wahrheit als
Baubo, die sich nicht nur freiwillig entblößt, sondern dadurch gerade Erheite-
rung erzeugt und Gram verscheucht. Gleichwohl stellt die paradoxal anmuten-
de Ineinanderblendung der verschleierten Isis als Allegorie der Wahrheit und
der ihre Scham entblößenden Baubo, wie sie sich in FW Vorrede vollzieht, kei-
ne willkürliche Assoziation dar. Die kunsthistorische Forschung geht davon
aus, dass die frühhellenistischen plastischen Darstellungen der nackten Baubo
mit gespreizten Beinen, die aus dem kleinasiatisch-ägyptischen Raum stam-
men, zu einem synkretistischen Kult gehören, der Isis und Demeter zu einer
einzigen Gottheit verschmolz (vgl. Pisani 2006, 290). Isis und Baubo hängen
demnach bereits kultisch zusammen. Einen Zusammenhang zwischen beiden
stellt schon Herodot II, 60 dar, der auf Baubo verweist, als er von den ähnli-
chen Enthüllungspraktiken im Isis-Kult berichtet. Besnard weist in seinem Ar-
nobius-Kommentar darauf hin (vgl. Arnobius 1842, 548).
Abgesehen von der genannten Verbindung zwischen Isis und Baubo ergibt
sich aber noch eine andere Deutungsmöglichkeit der Gleichsetzung von Wahr-
heit und Baubo, die den damit verbundenen Widerspruch zwischen Verschlei-
ern und Enthüllen als bloß scheinbaren erweist. In ihrer Monographie Die Be-
deutung der Baubo. Zur Repräsentation des weiblichen Genitales stellt Monika
Gsell für die Geschichte der europäischen Ikonographie seit der Antike die The-
se auf, dass „der Blick, der auf Darstellungen des weiblichen Genitales fällt,
unweigerlich ins Schlingern [gerät]. Denn was auch immer gezeigt wird [...],
stets entsteht der Eindruck, dass einem etwas vorenthalten wird und man nicht
 
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