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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0180
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Stellenkommentar FW Vorrede 4, KSA 3, S. 352 157

Lichtung und Verbergung (Verstellung), bei Nietzsche der eigentümliche Wech-
sel und Umsprung der Sicht (Innen und Außen). Andererseits wieder Baubo!"
(Ebd.) Zur mythischen Figur der Baubo bei N. vgl. auch Thorgeirsdottir 2012a.
Einige Interpreten wollen auch in FW 64, wo es ebenfalls um den Zusammen-
hang von Weiblichkeit, Verhüllung und Wahrheit geht, eine Bezugnahme auf
Baubo sehen.
352, 23 f. Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen
Olymp des Scheins zu glauben] Mit der Trias „Formen" - „Töne" - „Worte" sind
die drei großen Kunstgattungen aufgerufen: bildende Kunst, Musik und Dich-
tung; sie konstituieren demnach zusammen den „Olymp des Scheins", eine
lebensfreundliche Götterwelt der schönen Kunst, die auf diese Weise den le-
bensfeindlichen Wahrheits(ab)gründen der Philosophie entgegengesetzt wird.
Die Frage ist freilich, wer „diese Griechen" (352, 20 f.) sind, auf die sich das
sprechende Wir so generalisierend beruft, um sie zu Künstlern und damit
in seiner Logik zu heiteren Lebensbejahern zu erklären. Man mag sich hierbei
an die apollinischen Traumwelten der griechischen Dichtung in GT erinnert
fühlen (vgl. NK 352, 24 f.), wo jedoch Sokrates als weltgeschichtlicher „Wende-
punkt" (KSA 1, 100, 8) zuungunsten des schönen Scheins charakterisiert wur-
de. Unter dieser Voraussetzung könnten „diese Griechen" in FW Vorrede ei-
gentlich ebenfalls nur die „Griechen von Homer bis auf Sokrates" (KSA 1, 97,
11 f.) bezeichnen, mit dem dann das Streben nach möglichst vollständiger „Ent-
hüllung der Wahrheit" (KSA 1, 98, 16) begonnen habe.
Dass jedenfalls auch der Grieche und Sokrates-Schüler Platon, auf den der
zugrunde liegende Unterschied von Philosophie und Kunst als Gegensatz von
Wahrheit und Schein ja zurückgeht, gewiss kein ,Anbeter des Scheins', kein
enthusiastischer Kunstfreund war, betont N. immer wieder. Bereits im Frühjahr
1870 notiert er: „Plato's Feindseligkeit gegen die Kunst ist etwas sehr Bedeu-
tendes. Seine Lehrtendenz, der Weg zum Wahren durch das Wissen, hat keinen
größeren Feind als den schönen Schein." (NL 1869/70, 3[47], KSA 7, 74, 1-3)
Und noch in GM III 25, KSA 5, 402, 32-34 wird „Plato's" sogar als des „grössten
Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat", gedacht. Bezugnahmen
auf die philosophische Künstler- und Dichterkritik, wie sie vor allem im zwei-
ten und im zehnten Buch der Politeia vorgetragen wird, finden sich in verschie-
denen Texten N.s aus allen Schaffensphasen; besonders prominent ist das Za-
Kapitel „Von den Dichtern" (vgl. Zittel 2000, 35-45). Das in FW Vorrede 4 spre-
chende Wir greift den platonischen Gegensatz zwischen wahrheitsliebender
Philosophie und scheinverhafteter Kunst bzw. Dichtung auf, scheint jedoch die
Wertung gerade umzukehren, also die philosophische Wahrheit abzuwerten,
den ästhetisch-poetischen Schein dagegen aufzuwerten. Eine solche diametra-
le ,Umdrehung' des Platonismus hatte N. schon während seiner frühen Schaf-
 
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