158 Die fröhliche Wissenschaft
fensphase als philosophisch-ästhetischen Selbstentwurf erprobt. So lautet ein
nachgelassenes Notat von 1870/71: „Meine Philosophie umgedrehter Pla-
tonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser
ist es. Das Leben im Schein als Ziel." (NL 1870/71, 7[156], KSA 7, 199, 14-16)
Die Formel „Olymp des Scheins" wird Gottfried Benn später gleich mehr-
fach aufgreifen, um im Ausgang von N. seine eigene ,Artisten-Ästhetik' zu ent-
werfen. So schreibt Benn etwa in seinem poetologischen Aufsatz Probleme der
Lyrik (1951) über die „drei rätselhaften Worte": „Olymp, wo die großen Götter
gewohnt hatten, Zeus 2000 Jahre geherrscht hatte, die Moiren das Steuer der
Notwendigkeit geführt und nun -: des Scheins! Das ist eine Wendung. Das ist
kein Ästhetizismus, wie er das 19. Jahrhundert durchzuckte in Pater, Ruskin,
genialer in Wilde - das war etwas anderes, dafür gibt es nur ein Wort von
antikem Klang: Verhängnis. Sein inneres Wesen mit Worten zu zerreißen, der
Drang sich auszudrücken, zu formulieren, zu blenden, zu funkeln auf jede Ge-
fahr und ohne Rücksicht auf die Ergebnisse - das war eine neue Existenz."
(Benn 1986-2003, 6, 15) Anders akzentuiert Benn den „Olymp des Scheins" in
seiner autobiographischen Schrift Doppelleben (1950): „,Olymp des Scheins',
Nietzsche. // Die ewigen Dinge, das sogenannte Zeitlose, das sickert ja überall
durch, das ist selbstverständlich, aber die phänotypischen, an denen muss
man arbeiten." (Benn 1986-2003, 5, 579)
352, 24 f. Diese Griechen waren oberflächlich - aus Tiefe!] Wenn ,den Grie-
chen' bescheinigt wird, sich aus Tiefe der Oberfläche geweiht zu haben, dann
legt dies im vorliegenden Zusammenhang zugleich nahe, dass ihre Hinwen-
dung zum verschleiernden Schein der schönen Kunst gerade aus ihrer philoso-
phischen Erkenntnis der schrecklichen Wahrheit hervorgegangen sei. Dies ist
ein Gedanke, der bemerkenswert ähnlich bereits in GT artikuliert wurde. Insbe-
sondere die Rede vom „Olymp des Scheins", an den die Griechen aus solch
schmerzlich-tiefem Wissen geglaubt hätten, verknüpft das Ende von FW Vorre-
de mit N.s philosophischer ,Erstlingsschrift'. In deren drittem Kapitel heißt es
schon: „Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten
des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzen-
de Traumgeburt des Olympischen stellen." (KSA 1, 35, 29-32; zum „ernsthaften
und bedeutenden Begriff der ,griechischen Heiterkeit'", die auf einem „Blick[]
in's Innere und Schreckliche der Natur" beruhe, vgl. auch SGT, KSA 1, 613, 1-5.)
Die bis in sprachlich-metaphorische Einzelheiten hineinreichenden Parallelen
zu FW Vorrede 4 sind nicht zu übersehen.
Bezeichnenderweise hebt auch die wie FW Vorrede ebenfalls 1886 entstan-
dene Vorrede zu GT mit dem Titel „Versuch einer Selbstkritik" vornehmlich auf
diesen Aspekt ab. Insbesondere im fünften Abschnitt rückt er in den Vorder-
grund, und zwar keineswegs ,selbstkritisch', sondern durchaus zustimmend -
fensphase als philosophisch-ästhetischen Selbstentwurf erprobt. So lautet ein
nachgelassenes Notat von 1870/71: „Meine Philosophie umgedrehter Pla-
tonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser
ist es. Das Leben im Schein als Ziel." (NL 1870/71, 7[156], KSA 7, 199, 14-16)
Die Formel „Olymp des Scheins" wird Gottfried Benn später gleich mehr-
fach aufgreifen, um im Ausgang von N. seine eigene ,Artisten-Ästhetik' zu ent-
werfen. So schreibt Benn etwa in seinem poetologischen Aufsatz Probleme der
Lyrik (1951) über die „drei rätselhaften Worte": „Olymp, wo die großen Götter
gewohnt hatten, Zeus 2000 Jahre geherrscht hatte, die Moiren das Steuer der
Notwendigkeit geführt und nun -: des Scheins! Das ist eine Wendung. Das ist
kein Ästhetizismus, wie er das 19. Jahrhundert durchzuckte in Pater, Ruskin,
genialer in Wilde - das war etwas anderes, dafür gibt es nur ein Wort von
antikem Klang: Verhängnis. Sein inneres Wesen mit Worten zu zerreißen, der
Drang sich auszudrücken, zu formulieren, zu blenden, zu funkeln auf jede Ge-
fahr und ohne Rücksicht auf die Ergebnisse - das war eine neue Existenz."
(Benn 1986-2003, 6, 15) Anders akzentuiert Benn den „Olymp des Scheins" in
seiner autobiographischen Schrift Doppelleben (1950): „,Olymp des Scheins',
Nietzsche. // Die ewigen Dinge, das sogenannte Zeitlose, das sickert ja überall
durch, das ist selbstverständlich, aber die phänotypischen, an denen muss
man arbeiten." (Benn 1986-2003, 5, 579)
352, 24 f. Diese Griechen waren oberflächlich - aus Tiefe!] Wenn ,den Grie-
chen' bescheinigt wird, sich aus Tiefe der Oberfläche geweiht zu haben, dann
legt dies im vorliegenden Zusammenhang zugleich nahe, dass ihre Hinwen-
dung zum verschleiernden Schein der schönen Kunst gerade aus ihrer philoso-
phischen Erkenntnis der schrecklichen Wahrheit hervorgegangen sei. Dies ist
ein Gedanke, der bemerkenswert ähnlich bereits in GT artikuliert wurde. Insbe-
sondere die Rede vom „Olymp des Scheins", an den die Griechen aus solch
schmerzlich-tiefem Wissen geglaubt hätten, verknüpft das Ende von FW Vorre-
de mit N.s philosophischer ,Erstlingsschrift'. In deren drittem Kapitel heißt es
schon: „Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten
des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzen-
de Traumgeburt des Olympischen stellen." (KSA 1, 35, 29-32; zum „ernsthaften
und bedeutenden Begriff der ,griechischen Heiterkeit'", die auf einem „Blick[]
in's Innere und Schreckliche der Natur" beruhe, vgl. auch SGT, KSA 1, 613, 1-5.)
Die bis in sprachlich-metaphorische Einzelheiten hineinreichenden Parallelen
zu FW Vorrede 4 sind nicht zu übersehen.
Bezeichnenderweise hebt auch die wie FW Vorrede ebenfalls 1886 entstan-
dene Vorrede zu GT mit dem Titel „Versuch einer Selbstkritik" vornehmlich auf
diesen Aspekt ab. Insbesondere im fünften Abschnitt rückt er in den Vorder-
grund, und zwar keineswegs ,selbstkritisch', sondern durchaus zustimmend -