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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0182
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Stellenkommentar FW Vorrede 4, KSA 3, S. 352 159

als die gültige, bleibende Einsicht jener frühen Schrift. Der Abschnitt beginnt
mit dem Verweis auf die kunstmetaphysische Tendenz der Widmung an Wag-
ner: „Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst - und nicht die
Moral - als die eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen hinge-
stellt; im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach wieder, dass nur als
ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist." (KSA 1, 17,
8-12) Die sich darin ausdrückende „Artisten-Metaphysik" (KSA 1, 17, 23 f.) deute
nämlich bereits auf eine Haltung voraus, für die „alles Leben [...] auf Schein,
Kunst, Täuschung" beruht (KSA 1, 18, 20 f.) - was ja ähnlich auch die hymni-
sche Rede über die griechischen ,Lebens-Künstler' und ,Schein-Anbeter' am
Ende von FW Vorrede voraussetzt. Den Gedanken einer ästhetischen ,Rechtfer-
tigung' der Welt als schönes Oberflächenphänomen greift am Ende des Zweiten
Buchs auch FW 107 explizit auf (vgl. 464, 23-25).
Die Neigung zur Oberfläche aus Tiefe bzw. tiefem Leid thematisiert - in
Bezug auf Epikur - im Ersten Buch FW 45 (vgl. 411, 12-16) sowie im Dritten
Buch in analoger Bildlichkeit, aber generalisierend FW 256. Vgl. in mehrfacher
metaphorischer Nähe zur zweiten Hälfte von FW Vorrede 4 insgesamt auch
FW 64. Bei dem Gedanken einer ,Oberflächlichkeit aus Tiefe' handelt es sich
um einen regelrechten Topos im Schaffen N.s, der in verschiedenen Zusam-
menhängen begegnet. So heißt es etwa in KGW IX 4, W I 6, 49, 4-10 (NL 1885,
37[10], KSA 11, 585, 11-15) gegen „die Deutschen" der Gegenwart gerichtet: „Tie-
fe nämlich ist nöthig um die zarten Bedürfnisse nach Formen z über=/haupt
zu haben 'begreifen'; erst von der Tiefe aus, vom Abgrunde aus genießt man /
alles Glück, das im Hellen, Sicheren, Bunten, Oberflächlichen aller Art / liegt."
Vgl. auch NL 1884/85, 31[39], KSA 11, 376, 5-7, wo Zarathustra sein Glück preist,
aus der Tiefe an die Oberfläche hinaufgekommen zu sein: „oh Glück, ich kam
durch Haß und Liebe zu meiner Oberfläche: zu lange hieng ich in der Tiefe
gleich allen Schweren und Schwermüthigen". In JGB 59 findet sich der Gedan-
ke ebenfalls - hier in allgemeinem Bezug auf Philosophen und Künstler: „Wer
tief in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die
Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüch-
tig, leicht und falsch zu sein. Man findet hier und da eine leidenschaftliche
und übertreibende Anbetung der ,reinen Formen', bei Philosophen wie bei
Künstlern: möge Niemand zweifeln, dass wer dergestalt den Cultus der Ober-
fläche nöthig hat, irgend wann einmal einen unglückseligen Griff unter sie
gethan hat." (KSA 5, 78, 2-9; hierzu NK 5/1, S. 365 f.)
Zu der den Griechen am Ende von FW Vorrede zugeschriebenen ,Oberfläch-
lichkeit aus Tiefe' vgl. auch Müller 2005, 96 u. 176; speziell zur Auseinanderset-
zung mit den Griechen in FW siehe Denat 2010, zum vorliegenden Lobpreis der
Griechen ebd., 39 f. Allgemein zur philosophischen Metaphorik von Tiefe und
Oberfläche siehe Rolf 2014.
 
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