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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0271
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248 Die fröhliche Wissenschaft

369, 3-10 Ich mag nun mit gutem oder bösem Blicke auf die Menschen sehen,
ich finde sie immer bei Einer Aufgabe, Alle und jeden Einzelnen in Sonderheit:
Das zu thun, was der Erhaltung der menschlichen Gattung frommt. Und zwar
wahrlich nicht aus einem Gefühl der Liebe für diese Gattung, sondern einfach,
weil Nichts in ihnen älter, stärker, unerbittlicher, unüberwindlicher ist, als jener
Instinct] Das gleich am Beginn des Abschnitts sich zu Wort meldende Ich expo-
niert zunächst einen anscheinend in seinem subjektiven Belieben stehenden
Standpunktwechsel zwischen Philanthropie und Misanthropie. Doch die ge-
nannte Alternative, entweder „mit gutem oder bösem Blicke auf die Menschen
[zu] sehen", bezeichnet darüber hinaus, wie aus den folgenden Zeilen deutlich
wird (vgl. NK 369, 11-17), auch den moralischen Unterschied zwischen ,guten'
oder ,bösen' Menschen selbst. Der Sprecher in FW 1 setzt hier aber nur schein-
bar die Dualität eines strikten Entweder-oder voraus, denn im Blick auf die
„Eine[ ] Aufgabe" der Menschheit sei es letztlich völlig unerheblich, ob sich die
Menschen so oder so verhalten. Tatsächlich läuft die ,moralische' Betrachtung
im Fortgang des Textes auf ein Sowohl-als-auch hinaus, das hinsichtlich der
„Erhaltung der menschlichen Gattung" die Differenz zwischen Gut und Böse
nivelliert.
Die Exposition von FW 1 erinnert merklich an Ausführungen Schopenhau-
ers, namentlich an dessen Kapitel zur „Metaphysik der Geschlechtsliebe" aus
dem zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung, auch wenn die Argu-
mentation bei N. schließlich eine andere, moral- und religionspsychologische
Richtung einschlägt. (Auch FW 354 greift darauf zurück.) Insbesondere die
Gegenüberstellung bzw. Korrelation der „Einzelnen in Sonderheit" und der
„menschlichen Gattung" im Allgemeinen sowie die Zurückführung der von al-
len menschlichen Individuen befolgten Aufgabe der Gattungserhaltung auf ei-
nen „Instinct" - anstatt auf ein „Gefühl der Liebe für diese Gattung" - ist in
Schopenhauers „Metaphysik der Geschlechtsliebe" vorgeprägt. Laut Schopen-
hauer lässt sich die Lust des Individuums an der Aufgabe der Arterhaltung
nicht anders als mittels einer Täuschung durch einen starken Instinkt erklären,
der dem Individuum die Erfüllung eines egoistischen Zwecks vorgaukelt. Denn
der „Egoismus" ist gemäß Schopenhauers pessimistischer Anthropologie „eine
so tief wurzelnde Eigenschaft aller Individualität überhaupt, daß, um die Thä-
tigkeit eines individuellen Wesens zu erregen, egoistische Zwecke die einzigen
sind, auf welche man mit Sicherheit rechnen kann. Zwar hat die Gattung auf
das Individuum ein früheres, näheres und größeres Recht, als die hinfällige
Individualität selbst: jedoch kann, wann das Individuum für den Bestand und
die Beschaffenheit der Gattung thätig seyn und sogar Opfer bringen soll, sei-
nem Intellekt, als welcher bloß auf individuelle Zwecke berechnet ist, die
Wichtigkeit der Angelegenheit nicht so faßlich gemacht werden, daß sie dersel-
 
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