Stellenkommentar FW 1, KSA 3, S. 369 249
ben gemäß wirkte. Daher kann, in solchem Fall, die Natur ihren Zweck nur
dadurch erreichen, dass sie dem Individuo einen gewissen Wahn einpflanzt,
vermöge dessen ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloß
eines für die Gattung ist, so daß dasselbe dieser dient, während es sich selber
zu dienen wähnt; bei welchem Hergang eine bloße, gleich darauf verschwin-
dende Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv die Stelle einer Wirklichkeit ver-
tritt. Dieser Wahn ist der Instinkt. Derselbe ist, in den allermeisten Fällen,
anzusehen als der Sinn der Gattung, welcher das ihr Frommende dem Wil-
len darstellt. Weil aber der Wille hier individuell geworden; so muß er derge-
stalt getäuscht werden, daß er Das, was der Sinn der Gattung ihm vorhält,
durch den Sinn des Individui wahrnimmt, also individuellen Zwecken nach-
zugehen wähnt, während er in Wahrheit bloß generelle (dies Wort hier im
eigentlichen Sinn genom-/617/men) verfolgt." (Schopenhauer 1873-1874, 3,
616 f.)
Obwohl der Beginn von FW 1 auf diese Gedanken Schopenhauers zurück-
greift, vollzieht der Abschnitt eine erhebliche Erweiterung, indem er sie ,entse-
xualisiert': Wie im weiteren Argumentationsverlauf deutlich wird, geht es bei
der instinktiven Erfüllung der Arterhaltung durch die menschlichen Individuen
keineswegs, wie bei Schopenhauer, um den Trieb des „Individuums zur Ge-
schlechtsbefriedigung" (ebd., 617), sondern Schopenhauers Reflexion über das
Verhältnis von Individuum und Gattung wird vom Gebiet der Sexualität auf
das der Religion und Moral(philosophie) übertragen. Genauer: Mithilfe der
Theorie von der instinktiven Arterhaltung durch alle menschlichen Individuen
soll in moralrelativierender Absicht zunächst gezeigt werden, dass sowohl die
sogenannten guten wie bösen Handlungen dem Ziel der Arterhaltung dienen.
Indem dabei noch der Begriff der Nützlichkeit ins Spiel kommt, werden auf
recht eigenwillige Weise Ansätze des englischen Utilitarismus mit den genann-
ten Gedanken aus Schopenhauers „Metaphysik der Geschlechtsliebe" verbun-
den.
Zugleich stellt FW 1 mit dem Schlagwort der Gattungs- oder Arterhaltung
(das in FW 4, FW 55, FW 110 und FW 318 wiederkehrt) einen Bezug zum Darwi-
nismus her, dem Schopenhauers ,Naturphilosophie' in gewisser Weise prälu-
diert (vgl. Stegmaier 2010c, 76 f.). Dass Schopenhauer „[d]en ,Kampf ums Da-
sein' [...] schon lange vor Darwin gelehrt" habe, konnte N. jedenfalls in Julius
Frauenstädts Herausgeber-„Einleitung" in Schopenhauer 1873-1874, 1/1, XVII
lesen (zum darwinistischen Daseinskampf vgl. NK FW 349). Als unmittelbare
Quelle für die Ausführungen über die unausgesetzte menschliche Tätigkeit im
Dienst der Arterhaltung im ersten Abschnitt von FW kommt überdies das 1880
erschienene Buch Der thierische Wille von Georg Heinrich Schneider in Frage,
das N. besaß und mit zahlreichen Lesespuren versah. Darin heißt es, dass alle
ben gemäß wirkte. Daher kann, in solchem Fall, die Natur ihren Zweck nur
dadurch erreichen, dass sie dem Individuo einen gewissen Wahn einpflanzt,
vermöge dessen ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloß
eines für die Gattung ist, so daß dasselbe dieser dient, während es sich selber
zu dienen wähnt; bei welchem Hergang eine bloße, gleich darauf verschwin-
dende Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv die Stelle einer Wirklichkeit ver-
tritt. Dieser Wahn ist der Instinkt. Derselbe ist, in den allermeisten Fällen,
anzusehen als der Sinn der Gattung, welcher das ihr Frommende dem Wil-
len darstellt. Weil aber der Wille hier individuell geworden; so muß er derge-
stalt getäuscht werden, daß er Das, was der Sinn der Gattung ihm vorhält,
durch den Sinn des Individui wahrnimmt, also individuellen Zwecken nach-
zugehen wähnt, während er in Wahrheit bloß generelle (dies Wort hier im
eigentlichen Sinn genom-/617/men) verfolgt." (Schopenhauer 1873-1874, 3,
616 f.)
Obwohl der Beginn von FW 1 auf diese Gedanken Schopenhauers zurück-
greift, vollzieht der Abschnitt eine erhebliche Erweiterung, indem er sie ,entse-
xualisiert': Wie im weiteren Argumentationsverlauf deutlich wird, geht es bei
der instinktiven Erfüllung der Arterhaltung durch die menschlichen Individuen
keineswegs, wie bei Schopenhauer, um den Trieb des „Individuums zur Ge-
schlechtsbefriedigung" (ebd., 617), sondern Schopenhauers Reflexion über das
Verhältnis von Individuum und Gattung wird vom Gebiet der Sexualität auf
das der Religion und Moral(philosophie) übertragen. Genauer: Mithilfe der
Theorie von der instinktiven Arterhaltung durch alle menschlichen Individuen
soll in moralrelativierender Absicht zunächst gezeigt werden, dass sowohl die
sogenannten guten wie bösen Handlungen dem Ziel der Arterhaltung dienen.
Indem dabei noch der Begriff der Nützlichkeit ins Spiel kommt, werden auf
recht eigenwillige Weise Ansätze des englischen Utilitarismus mit den genann-
ten Gedanken aus Schopenhauers „Metaphysik der Geschlechtsliebe" verbun-
den.
Zugleich stellt FW 1 mit dem Schlagwort der Gattungs- oder Arterhaltung
(das in FW 4, FW 55, FW 110 und FW 318 wiederkehrt) einen Bezug zum Darwi-
nismus her, dem Schopenhauers ,Naturphilosophie' in gewisser Weise prälu-
diert (vgl. Stegmaier 2010c, 76 f.). Dass Schopenhauer „[d]en ,Kampf ums Da-
sein' [...] schon lange vor Darwin gelehrt" habe, konnte N. jedenfalls in Julius
Frauenstädts Herausgeber-„Einleitung" in Schopenhauer 1873-1874, 1/1, XVII
lesen (zum darwinistischen Daseinskampf vgl. NK FW 349). Als unmittelbare
Quelle für die Ausführungen über die unausgesetzte menschliche Tätigkeit im
Dienst der Arterhaltung im ersten Abschnitt von FW kommt überdies das 1880
erschienene Buch Der thierische Wille von Georg Heinrich Schneider in Frage,
das N. besaß und mit zahlreichen Lesespuren versah. Darin heißt es, dass alle