514 Die fröhliche Wissenschaft
56.
Die Begierde nach Leiden.] Eine ,Vorstufe' aus dem Herbst 1881 lautet
knapp: „Es sind immer Kräfte da, welche thun wollen - deshalb vor Allem
Arbeit u. Noth! Noth ist nöthig!" (N V 7, 191) In der ausführlichen ,Vorstufe' in
Μ III 5, 62 wie dann auch in der Druckfassung findet sich zwar nicht mehr die
„Arbeit", wohl aber die Figura etymologica „Noth ist nöthig!" (418, 24) wieder.
Sie erinnert an das paradoxale Schlussdiktum von FW 48: „Das Recept gegen
,die Noth' lautet: Noth." (414, 20) Zu dieser kotextuellen Querverbindung sie-
he May 2011, 84 f. Allerdings ist mit der Not-Formel in FW 56 gleichsam das
Gegenteil gemeint: nicht die Notwendigkeit einer neuen „Noth der Seele wie
des Leibes" (413, 8), die den philosophischen Pessimismus ,unserer' notlosen
Gegenwart ablösen soll, sondern gerade nur ein fingierter sozialer Notstand,
gegen welchen die „junge Welt" (418, 27) ankämpft, um ihre vom Sprecher
unterstellte innere Leere zu überdecken. Bei dem Postulat „Noth ist nöthig!"
handelt es sich mithin um ein Quasi-Zitat, das der Sprecher der seines Erach-
tens aus „Langeweile" (418, 20) leid- und notgierigen zeitgenössischen Jugend
Europas in den Mund legt, die einen äußeren Anlass zum Handeln benötige.
Die titelgebende „Begierde nach Leiden" erweist sich als Begierde nach
dem Leiden anderer Menschen, um sich für diese einsetzen zu können (vgl.
die „Religion des Mitleidens" in FW 338, 567, 3; zu diesem Zusammenhang
Losurdo 2009, 279). Ähnlich wie in FW 48 zieht zwar auch im Schlussabschnitt
des Ersten Buchs das „ich" als Gegenrezept „eine eigene, selbsteigene Noth"
(419, 2) in Erwägung, leitet daraus nun aber ausdrücklich die Aussicht auf feine
„Erfindungen" und wohklingende „Befriedigungen" in einer glücklicheren Zu-
kunft ab (419, 3), nicht ohne sich am Ende freilich für diese optimistische -
und im Irrealis vorgetragene - Vision zu entschuldigen. Vgl. die ,Reinschrift'
mit mehreren Korrekturen und Varianten in M III 6, 2 f., die bereits mit dem
Titel der Druckfassung versehen wurde (hier korrigiert aus: „Die Begierde zu
leiden. -").
In der Forschung wurde der Schlussabschnitt des Ersten Buchs verschie-
dentlich gestreift und teils geradezu gegensätzlich gedeutet: Als Zeugnis einer
Abwendung „von der Faszination durch das tragische Pathos", wie sie noch in
N.s früher Schaffensphase geherrscht hat, wertet Thiel 1980, 117 den Text, und
eine Entzauberung des „Heiligenschein[s] des Leidens bei Schopenhauer" er-
blickt Pieper 1992, 220 darin. Dagegen kommt nach Sandvoss 1992, 204 in
FW 56 gerade „Nietzsches sadomasochistische Einstellung zum Ausbruch",
wozu passen mag, dass Hoyer 2002, 594, Anm. 112 die im Text kritisierte „Be-
gierde nach Leiden" von dem positiver konnotierten „Wille[n] zum Lei-
den" abgrenzt, dessen Fehlen in NL 1882, 3[1], KSA 10, 70, 8 f. „den Behagli-
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Die Begierde nach Leiden.] Eine ,Vorstufe' aus dem Herbst 1881 lautet
knapp: „Es sind immer Kräfte da, welche thun wollen - deshalb vor Allem
Arbeit u. Noth! Noth ist nöthig!" (N V 7, 191) In der ausführlichen ,Vorstufe' in
Μ III 5, 62 wie dann auch in der Druckfassung findet sich zwar nicht mehr die
„Arbeit", wohl aber die Figura etymologica „Noth ist nöthig!" (418, 24) wieder.
Sie erinnert an das paradoxale Schlussdiktum von FW 48: „Das Recept gegen
,die Noth' lautet: Noth." (414, 20) Zu dieser kotextuellen Querverbindung sie-
he May 2011, 84 f. Allerdings ist mit der Not-Formel in FW 56 gleichsam das
Gegenteil gemeint: nicht die Notwendigkeit einer neuen „Noth der Seele wie
des Leibes" (413, 8), die den philosophischen Pessimismus ,unserer' notlosen
Gegenwart ablösen soll, sondern gerade nur ein fingierter sozialer Notstand,
gegen welchen die „junge Welt" (418, 27) ankämpft, um ihre vom Sprecher
unterstellte innere Leere zu überdecken. Bei dem Postulat „Noth ist nöthig!"
handelt es sich mithin um ein Quasi-Zitat, das der Sprecher der seines Erach-
tens aus „Langeweile" (418, 20) leid- und notgierigen zeitgenössischen Jugend
Europas in den Mund legt, die einen äußeren Anlass zum Handeln benötige.
Die titelgebende „Begierde nach Leiden" erweist sich als Begierde nach
dem Leiden anderer Menschen, um sich für diese einsetzen zu können (vgl.
die „Religion des Mitleidens" in FW 338, 567, 3; zu diesem Zusammenhang
Losurdo 2009, 279). Ähnlich wie in FW 48 zieht zwar auch im Schlussabschnitt
des Ersten Buchs das „ich" als Gegenrezept „eine eigene, selbsteigene Noth"
(419, 2) in Erwägung, leitet daraus nun aber ausdrücklich die Aussicht auf feine
„Erfindungen" und wohklingende „Befriedigungen" in einer glücklicheren Zu-
kunft ab (419, 3), nicht ohne sich am Ende freilich für diese optimistische -
und im Irrealis vorgetragene - Vision zu entschuldigen. Vgl. die ,Reinschrift'
mit mehreren Korrekturen und Varianten in M III 6, 2 f., die bereits mit dem
Titel der Druckfassung versehen wurde (hier korrigiert aus: „Die Begierde zu
leiden. -").
In der Forschung wurde der Schlussabschnitt des Ersten Buchs verschie-
dentlich gestreift und teils geradezu gegensätzlich gedeutet: Als Zeugnis einer
Abwendung „von der Faszination durch das tragische Pathos", wie sie noch in
N.s früher Schaffensphase geherrscht hat, wertet Thiel 1980, 117 den Text, und
eine Entzauberung des „Heiligenschein[s] des Leidens bei Schopenhauer" er-
blickt Pieper 1992, 220 darin. Dagegen kommt nach Sandvoss 1992, 204 in
FW 56 gerade „Nietzsches sadomasochistische Einstellung zum Ausbruch",
wozu passen mag, dass Hoyer 2002, 594, Anm. 112 die im Text kritisierte „Be-
gierde nach Leiden" von dem positiver konnotierten „Wille[n] zum Lei-
den" abgrenzt, dessen Fehlen in NL 1882, 3[1], KSA 10, 70, 8 f. „den Behagli-