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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0539
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516 Die fröhliche Wissenschaft

in den scheinbar wohlhabenden Kreisen der Geschäftswelt verbirgt sich unter
erborgtem Flitter oft viel Armuth und Entbehrung. An größern Handelsplätzen
müssen alljährlich Geschäftsmänner, die lange Zeit reich und angesehen wa-
ren, wieder zu der abhängigen Stellung von Comptoristen und Gehülfen oder
Vermittlern und Agenten herabsteigen, oder sich entschließen, nach Ländern
jenseits des Oceans auszuwandern, wo dann gewöhnlich wieder eine Schule
von sehr untergeordneter und niedriger Arbeit für sie beginnt. Es giebt nicht
bloß ein Fabrikproletariat, sondern auch ein kaufmännisches, ein Handwerker-
und Ackerbau-Proletariat, ja sogar ein recht verschämtes Gelehrten- und Beam-
ten-Proletariat, das mit dem guten Arbeitslohne vieler Fabrikarbeiter sehr gern
tauschen würde." Böhmerts Ausführungen liefern ein gutes Beispiel für dasje-
nige, was in FW 56 sprechende Ich wenige Zeilen später als „Nothgeschrei"
(419, 5) abtut. Losurdo 2009, 278 f. liest den zu kommentierenden Passus als
Beleg dafür, dass sich sozialrevolutionäre Gedanken auch in der Bourgeoisie
verbreiten und Teile derselben in das proletarische Lager wechseln, wie es
Marx und Engels im Kommunistischen Manifest beschrieben haben. N. werte
diesen Vorgang allerdings ab, da solche ,Überläufer' seines Erachtens Opfer
einer emotionalen Täuschung seien.
Ähnlich dem „Geschrei der Politiker" in FW 56 wird auch gegen Ende des
Vierten Buchs in FW 338, wo es ebenfalls um die „Noth" geht, „das Geschrei
von heute" thematisiert: „der Lärm der Kriege und Revolutionen", der dem
angesprochenen Du jedoch nur „ein Gemurmel sein" soll (568, 13-15).
418, 29-31 ihre Phantasie ist schon voraus geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu
formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer kämpfen könne] Der heldenhaf-
te Kampf mit Ungeheuern ist beim frühen N., dem er nicht zuletzt durch Wag-
ners Oper Siegfried vor Augen stand, noch positiv besetzt und dient sogar zur
Umschreibung der eigenen „Waffengenossenschaft" mit Franz Overbeck (vgl.
Sommer 1997, 112). Hier gerät das Bild jedoch zum Ausdruck der illusorischen
Spiegelfechterei einer Jugend, die das Ungeheuer selbst erst imaginativ er-
schafft, gegen das sie kämpfen will. Die Möglichkeit eines quasi in umgekehr-
ter Richtung verlaufenden Überformtwerdens des Kämpfenden durch das be-
kämpfte Ungeheuer eröffnet später JGB 146, KSA 5, 98, 19 f.: „Wer mit
Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird."
Vgl. hierzu NK 5/1, S. 454 f.
418, 30 formen] M III 6, 2: „machen".
418, 31f. Nothsüchtigen] Dieses neologistische Kompositum, das vor N. nicht
belegt werden konnte, stellt bei ihm ein Hapax legomenon dar.
419, 1 anzuthun] In M III 6, 2 korrigiert aus: „zu thun".
 
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