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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0543
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520 Die fröhliche Wissenschaft

tatsächlich um einen „aus Goethes Werther entlehnten Angriff gegen die nüch-
ternen', also der ,Trunkenheit' der Leidenschaft abholden Menschen" (Vivarelli
2015, 72) handelt. Die spezifische Abweichung gegenüber dem als Prätext in
Frage kommenden Werther-Zitat besteht, wie sich im Fortgang des Abschnitts
zeigt, doch gerade darin, dass den nur vermeintlich Nüchternen bei N. ihrer-
seits eine - unauflösbar mit der conditio humana verbundene - „Trunkenheit"
attestiert wird, während Werther eine starre Grenze zwischen Nüchternen und
Trunkenen zieht. Am Ende von FW 57 schreibt sich das ,trunkene' Wir plötzlich
sogar selbst einen spezifischen ,Willen zur Nüchternheit' zu und betont aus-
drücklich seine Verwandtschaft mit den Nüchternen (vgl. 422, 3-7), deren „Lee-
re" im Eingangspassus noch kritisch aufgerufen wird, um den falschen „Stolz"
darauf zu entlarven.
421, 6 f. ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine,
so sei sie wirklich beschaffen] Thematisiert wird der zeitgenössische Realismus
auch als künstlerisches Programm in FW Vorspiel 55, wo sich die prätendierte
Naturtreue eines ,realistischen Malers' als unerreichbares Ziel entpuppt. Zu N.s
Lektüren aus dem Umkreis des wissenschaftlichen Realismus seiner Gegenwart
(Positivismus, Empirismus, Materialismus usw.) sowie der entsprechenden Ge-
genströmungen vgl. ÜK 2. Mit Blick auf die empiristischen, moralgenealogi-
schen Schriften seines Freundes Paul Ree sprach N. zu Beginn seiner ,freigeisti-
gen' Schaffensphase selbstironisch von seinem eigenen „Appetit [...] nach
Reealismus" (an Paul Ree, Ende Juli 1878, KSB 5/KGB II 5, Nr. 737, S. 342,
Z. 28 f.). Trotz der beim ,mittleren' N. häufig im Zeichen von ,Aufklärung' und
,Skepsis' begegnenden positiven Bezugnahme auf die ,Realität' bzw. Wirklich-
keit', die gegen metaphysische ,Phantasmen' in Stellung gebracht wird (vgl.
etwa M 10; NK 3/1, S. 89 f.), erscheinen die (selbsternannten) nüchternen „Rea-
listen" im zu kommentierenden Text - zunächst jedenfalls - als Antipoden der
Sprechinstanz. Dass hier primär „wohl schon - nach literaturgeschichtlicher
Einteilung - die ,Naturalisten'" oder allenfalls noch deren poetische „Vorgän-
ger' im Amt der Wirklichkeitsschilderung" gemeint sind (Aust 2006, 31), wie
ein germanistisches Lehrbuch zum Realismus informiert, ist aber sicher zu eng
gefasst.
Wenn es über die angeredeten „Realisten" heißt, die „Welt" sei ihres Erach-
tens „wirklich" so „beschaffen", wie sie ihnen „erscheine", dann ruft diese
Formulierung vielmehr das erkenntnistheoretische Zentralproblem des philo-
sophischen Realismus auf, wie es bereits Kant in der Kritik der reinen Vernunft
vor dem Hintergrund seiner fundamentalen Unterscheidung zwischen „Ding
an sich" und „Erscheinung" erörtert hat. Da Kant für einen „transscendentalen
Idealism" argumentiert, dem zufolge alle Erkenntnisgegenstände als „Erschei-
 
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