Stellenkommentar FW 57, KSA 3, S. 421 521
nungen" in Raum und Zeit „insgesammt als bloße Vorstellungen und nicht als
Dinge an sich selbst an[zu]sehen" sind, hält er umgekehrt einen entsprechen-
den „Realism" für die „fälschlich[e]" Annahme, „äußere Erscheinungen" seien
„als Dinge an sich selbst" zu betrachten, „die unabhängig von uns und unserer
Sinnlichkeit existiren" (AA IV, 232). Obwohl in etlichen anderen Texten N.s -
so z. B. in FW 335 - Kants transzendentalidealistische Unterscheidung zwi-
schen „Ding an sich" und „Erscheinung" verspottet wird, nähert sich ihr die
Sprechinstanz von FW 57 auf gewisse Weise an, wenngleich es ihr im Gegen-
satz zu Kant nicht darum geht, apriorische Erkenntnisgesetze für die empiri-
sche Erscheinungswelt zu formulieren (vgl. Fleischer 1984, 164). Vgl. auch
FW 110, wo der Sprecher die Vorstellung, „dass ein Ding Das sei, als was es
erscheine", zu den alten „irrthümliche[n] Glaubenssätze[n]" rechnet (469, 10 f.
u. 14 f.). Zu N.s vom Früh- bis zum Spätwerk reichender Auseinandersetzung
mit Kants Begriffspaar Erscheinung und Ding an sich vgl. Riccardi 2009 und
Itaparica 2017.
Die kantische Lehre von der Idealität der Erscheinungen konnte N. - abge-
sehen von ihrer Adaption bei Schopenhauer - in mehreren seiner zeitgenössi-
schen philosophischen bzw. erkenntnistheoretischen Lektüren dargestellt fin-
den. Für seine persönliche Bibliothek hatte er die 1878 publizierte Dissertation
über Kant's Lehre vom Ding an sich von Rudolf Lehmann erworben. Bereits im
Jahr 1866 berichtete N. seinem Freund Carl von Gersdorff über Friedrich Albert
Lange, dessen Geschichte des Materialismus gerade erst erschienen war: „Wir
haben hier einen höchst aufgeklärten Kantianer und Naturforscher vor uns.
Sein Resultat ist in folgenden drei Sätzen zusammengefaßt: / 1) die Sinnenwelt
ist das Produkt unsrer Organisation. / 2) unsre sichtbaren (körperlichen) Organe
sind gleich allen andern Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbe-
kannten Gegenstandes. / 3) Unsre wirkliche Organisation bleibt uns daher eben-
so unbekannt, wie die wirklichen Außendinge." (Ende August 1866, KSB 2/
KGB I 2, Nr. 517, S. 159 f., Z. 29-37) In radikalisierter Form begegnet diese idealis-
tische Auffassung z. B. in Afrikan Spirs Werk Denken und Wirklichkeit, wo es
über die „Realität der Aussenwelt" heißt: „Dass die von uns wahrgenommenen
Körper nicht äusser uns existiren, das steht äusser allem Zweifel." (Spir 1877, 2,
90 f.) Das folgende Resümee Spirs hat N. mit einem Randstrich hervorgehoben:
„Thatsache ist, dass unsere Sinnesempfindungen selbst als eine Welt von Din-
gen im Raume erkannt werden und dass sie von Natur dieser Erkenntniss ange-
passt sind. Keine äusseren Ursachen können diese rein innere Thatsache erklä-
ren, welche aus rein inneren Gründen entsteht." (Spir 1877, 2, 99)
Der kantische Transzendentalidealismus liegt deutlich auch einer Passage
aus Otto Liebmanns Analysis der Wirklichkeit zugrunde, die N. mit Unterstrei-
chungen und mit der Randbemerkung „ecco!" versehen hat: „Schließlich käme
nungen" in Raum und Zeit „insgesammt als bloße Vorstellungen und nicht als
Dinge an sich selbst an[zu]sehen" sind, hält er umgekehrt einen entsprechen-
den „Realism" für die „fälschlich[e]" Annahme, „äußere Erscheinungen" seien
„als Dinge an sich selbst" zu betrachten, „die unabhängig von uns und unserer
Sinnlichkeit existiren" (AA IV, 232). Obwohl in etlichen anderen Texten N.s -
so z. B. in FW 335 - Kants transzendentalidealistische Unterscheidung zwi-
schen „Ding an sich" und „Erscheinung" verspottet wird, nähert sich ihr die
Sprechinstanz von FW 57 auf gewisse Weise an, wenngleich es ihr im Gegen-
satz zu Kant nicht darum geht, apriorische Erkenntnisgesetze für die empiri-
sche Erscheinungswelt zu formulieren (vgl. Fleischer 1984, 164). Vgl. auch
FW 110, wo der Sprecher die Vorstellung, „dass ein Ding Das sei, als was es
erscheine", zu den alten „irrthümliche[n] Glaubenssätze[n]" rechnet (469, 10 f.
u. 14 f.). Zu N.s vom Früh- bis zum Spätwerk reichender Auseinandersetzung
mit Kants Begriffspaar Erscheinung und Ding an sich vgl. Riccardi 2009 und
Itaparica 2017.
Die kantische Lehre von der Idealität der Erscheinungen konnte N. - abge-
sehen von ihrer Adaption bei Schopenhauer - in mehreren seiner zeitgenössi-
schen philosophischen bzw. erkenntnistheoretischen Lektüren dargestellt fin-
den. Für seine persönliche Bibliothek hatte er die 1878 publizierte Dissertation
über Kant's Lehre vom Ding an sich von Rudolf Lehmann erworben. Bereits im
Jahr 1866 berichtete N. seinem Freund Carl von Gersdorff über Friedrich Albert
Lange, dessen Geschichte des Materialismus gerade erst erschienen war: „Wir
haben hier einen höchst aufgeklärten Kantianer und Naturforscher vor uns.
Sein Resultat ist in folgenden drei Sätzen zusammengefaßt: / 1) die Sinnenwelt
ist das Produkt unsrer Organisation. / 2) unsre sichtbaren (körperlichen) Organe
sind gleich allen andern Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbe-
kannten Gegenstandes. / 3) Unsre wirkliche Organisation bleibt uns daher eben-
so unbekannt, wie die wirklichen Außendinge." (Ende August 1866, KSB 2/
KGB I 2, Nr. 517, S. 159 f., Z. 29-37) In radikalisierter Form begegnet diese idealis-
tische Auffassung z. B. in Afrikan Spirs Werk Denken und Wirklichkeit, wo es
über die „Realität der Aussenwelt" heißt: „Dass die von uns wahrgenommenen
Körper nicht äusser uns existiren, das steht äusser allem Zweifel." (Spir 1877, 2,
90 f.) Das folgende Resümee Spirs hat N. mit einem Randstrich hervorgehoben:
„Thatsache ist, dass unsere Sinnesempfindungen selbst als eine Welt von Din-
gen im Raume erkannt werden und dass sie von Natur dieser Erkenntniss ange-
passt sind. Keine äusseren Ursachen können diese rein innere Thatsache erklä-
ren, welche aus rein inneren Gründen entsteht." (Spir 1877, 2, 99)
Der kantische Transzendentalidealismus liegt deutlich auch einer Passage
aus Otto Liebmanns Analysis der Wirklichkeit zugrunde, die N. mit Unterstrei-
chungen und mit der Randbemerkung „ecco!" versehen hat: „Schließlich käme