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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0545
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522 Die fröhliche Wissenschaft

dann doch [...] die verschwiegene Grundwahrheit zum Vorschein, daß bei all
unsren empirischen Erkenntnissen und wissenschaftlichen Theorieen bereits
das menschliche Bewusstsein mit seinem sinnlichen Anschauungs- und logi-
schen Verstandesapparat vorausgesetzt ist, und daß wir auf keine Weise Si-
cherheit über Das zu gewinnen im Stande sind, was eigentlich hinter der in
diesem Anschauungs- und Verstandesapparat gesetzlich entspringenden Bil-
der- und Gedankenwelt stecken mag." (Liebmann 1880, 364) Auch in Otto
Schmitz-Dumonts Die Einheit der Naturkräfte von 1881, das N. besaß, konnte
er die antirealistische Position vorfinden, dass die Erkenntnis der Außenwelt
„von unserer speziellen Organisation" präformiert sei. An einer Stelle, die N.
mit mehreren Randstrichen versah, heißt es: „Die Erkenntniss, dass die Eigen-
schaften der Dinge von der Art unserer Sinne abhängen, dass sie bei anders
konstruirten Sinnesorganen ganz andere sein würden, ist zwar schon allge-
mein geworden. Nichtsdestoweniger glaubt der Realismus in seiner Anschau-
ung von den Dingen und deren Eigenschaften eine ziemlich richtige Anschau-
ung von der realen Wahrheit der Dinge zu besitzen [...]. Aber die Formen der
Dinge sind ebenso abhängig von der Art unserer Sinne, wie die Eigenschaften
der Dinge." (Schmitz-Dumont 1881, 161; N.s Unterstreichungen.)
N. besaß und las aber nicht nur derartige neukantianisch-idealistische Li-
teratur, sondern auch Werke, die sich dem erkenntnistheoretischen Realismus
zuordnen lassen. Ähnlich den im zu kommentierenden Passus aus dem ersten
Satz von FW 57 apostrophierten „Realisten", die glauben, die Welt sei so, wie
sie ihnen erscheine, behauptet etwa der Transzendentale Realist' Philipp Spil-
ler in seinem von N. erworbenen Buch Die Urkraft des Weltalls, dass die „Zu-
stände der Aussenwelt [...] nicht bedingt durch die physiologi[s]che Beschaf-
fenheit der Sinnesorgane" seien (Spiller 1876, 50; vgl. auch Zöllner 1872, 347 f.).
Indes geht es dem Sprecher im vorliegenden Abschnitt weder darum, die Struk-
tur der uns erscheinenden Außenwelt auf die Beschaffenheit der physiologi-
schen Sinnesorgane noch - kantianisierend - auf die apriorisch reinen Formen
der Sinnlichkeit und des Verstandes zurückzuführen. Vielmehr wird im Fort-
gang des Textes auf (gattungs)geschichtlich überkommene „Leidenschaften"
(421, 15) und Wahrnehmungsgewohnheiten hingewiesen, die das Erscheinen
der Dinge in der Welt bestimmen und beeinflussen. Anstelle einer ein für alle-
mal feststehenden Struktur des menschlichen Erkenntnisapparates führt das
sprechende Wir hier mithin ererbte, über lange Zeiträume hinweg ,einverleibte'
Passionen an, was denn auch seine Rede von der konstitutiven „Trunkenheit"
(421, 17) des Menschen - selbst der vorgeblich nüchternen Realisten - in Bezug
auf die Wirklichkeit motiviert. Zum Problem der Realität der Außenwelt bei N.
vgl. auch JGB 15 u. hierzu NK KSA 5, 29, 5-16.
421, 7-13 vor euch allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, und ihr selber wäret
vielleicht der beste Theil davon, - oh ihr geliebten Bilder von Sais! Aber seid
 
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