524 Die fröhliche Wissenschaft
Ursprung haben! Immer noch ist eurer Nüchternheit eine geheime und unvertilg-
bare Trunkenheit einverleibt! Eure Liebe zur „ Wirklichkeit" zum Beispiel - oh
das ist eine alte uralte „Liebe"! In jeder Empfindung, in jedem Sinneseindruck
ist ein Stück dieser alten Liebe] Dass die ,antirealistische' Haltung des Spre-
chers nicht darauf hinausläuft, in kantianisierender, transzendentalidealisti-
scher Manier feste Strukturen des menschlichen Erkenntnisvermögens für die
Erscheinungsweise der Dinge verantwortlich zu machen, sondern historisch
bedingte (Wert-)„Schätzungen", geht aus diesem Passus deutlich hervor (die
„historische Verwurzelung" der Wirklichkeitskonstruktion in FW 57 bemerkt
bereits Schlichting 1986, 448, der Heinrich Manns Rezeption dieses Gedan-
kens nachgeht). In einer nachgelassenen Aufzeichnung vom Winter 1883 no-
tiert N. in ähnlicher Blickrichtung mit Bezug auf den „Umfang der morali-
schen Werthschätzungen: sie sind fast in jedem Sinneseindruck mitspielend.
Die Welt ist uns gefärbt dadurch." (NL 1883/1884, 24[15], KSA 10, 652, 26-
28) Dass die „Liebe zur ,Wirklichkeit'", anders als es der zu kommentierende
Passus nahelegt, eine Gemeinsamkeit zwischen den Angesprochenen und dem
Sprechenden sein könnte, zeigt sich vom Ende des Abschnitts her, wo das spre-
chende Wir unvermittelt seinen eigenen „Wille[n], über die Trunkenheit hi-
nauszukommen" (422, 5 f.), thematisiert. Dies lässt, zumal in Verbindung mit
der auf die realistische Wirklichkeitsliebe bezogenen Formulierung „unvertilg-
bare Trunkenheit", Zweifel daran aufkommen, ob die ,Botschaft' von FW 57
tatsächlich lautet: „Von unserer ,Liebe zur Wirklichkeit' müssen wir lassen."
(Fleischer 1984, 164)
421, 17 f. einverleibt] Vgl. NK 370, 21.
421, 23-422, 1 Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran „wirklich"?
Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zuthat davon ab, ihr
Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet!] Mit diesen deiktischen Ausrufen und
der daran anschließenden Infragestellung der Wirklichkeit der genannten Din-
ge kommt der Sprecher auf die eingangs referierte ,Andeutung' der angespro-
chenen Realisten zurück, die Welt sei wirklich so beschaffen, wie sie erscheine,
um dies nachdrücklich in Zweifel zu ziehen. Laut Figal 1999, 117 f. will N. damit
zeigen, dass sich „Sache" (dieses Wort kommt in N.s Text allerdings nicht vor)
und „Zuthat" nicht unterscheiden lassen, obwohl es sich nicht um bloße Hallu-
zinationen handle: „Wenn ihr, so ließe die Reihe sich fortsetzen, imstande wä-
ret, zwischen ,Zuthat' und ,Sache' überhaupt zu unterscheiden; wenn ihr sagen
könntet, was denn ,die Sache' sein soll, sobald man davon absieht, wie sie
erscheint. Nicht, daß wir umgekehrt sagen könnten, es gäbe diesen Berg, jene
Wolke dort nicht, und alles sei Einbildung, Wachtraum oder dergleichen. Nur
können wir ,die Sache' niemals neben ihre Erscheinungen halten - so, aber
Ursprung haben! Immer noch ist eurer Nüchternheit eine geheime und unvertilg-
bare Trunkenheit einverleibt! Eure Liebe zur „ Wirklichkeit" zum Beispiel - oh
das ist eine alte uralte „Liebe"! In jeder Empfindung, in jedem Sinneseindruck
ist ein Stück dieser alten Liebe] Dass die ,antirealistische' Haltung des Spre-
chers nicht darauf hinausläuft, in kantianisierender, transzendentalidealisti-
scher Manier feste Strukturen des menschlichen Erkenntnisvermögens für die
Erscheinungsweise der Dinge verantwortlich zu machen, sondern historisch
bedingte (Wert-)„Schätzungen", geht aus diesem Passus deutlich hervor (die
„historische Verwurzelung" der Wirklichkeitskonstruktion in FW 57 bemerkt
bereits Schlichting 1986, 448, der Heinrich Manns Rezeption dieses Gedan-
kens nachgeht). In einer nachgelassenen Aufzeichnung vom Winter 1883 no-
tiert N. in ähnlicher Blickrichtung mit Bezug auf den „Umfang der morali-
schen Werthschätzungen: sie sind fast in jedem Sinneseindruck mitspielend.
Die Welt ist uns gefärbt dadurch." (NL 1883/1884, 24[15], KSA 10, 652, 26-
28) Dass die „Liebe zur ,Wirklichkeit'", anders als es der zu kommentierende
Passus nahelegt, eine Gemeinsamkeit zwischen den Angesprochenen und dem
Sprechenden sein könnte, zeigt sich vom Ende des Abschnitts her, wo das spre-
chende Wir unvermittelt seinen eigenen „Wille[n], über die Trunkenheit hi-
nauszukommen" (422, 5 f.), thematisiert. Dies lässt, zumal in Verbindung mit
der auf die realistische Wirklichkeitsliebe bezogenen Formulierung „unvertilg-
bare Trunkenheit", Zweifel daran aufkommen, ob die ,Botschaft' von FW 57
tatsächlich lautet: „Von unserer ,Liebe zur Wirklichkeit' müssen wir lassen."
(Fleischer 1984, 164)
421, 17 f. einverleibt] Vgl. NK 370, 21.
421, 23-422, 1 Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran „wirklich"?
Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zuthat davon ab, ihr
Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet!] Mit diesen deiktischen Ausrufen und
der daran anschließenden Infragestellung der Wirklichkeit der genannten Din-
ge kommt der Sprecher auf die eingangs referierte ,Andeutung' der angespro-
chenen Realisten zurück, die Welt sei wirklich so beschaffen, wie sie erscheine,
um dies nachdrücklich in Zweifel zu ziehen. Laut Figal 1999, 117 f. will N. damit
zeigen, dass sich „Sache" (dieses Wort kommt in N.s Text allerdings nicht vor)
und „Zuthat" nicht unterscheiden lassen, obwohl es sich nicht um bloße Hallu-
zinationen handle: „Wenn ihr, so ließe die Reihe sich fortsetzen, imstande wä-
ret, zwischen ,Zuthat' und ,Sache' überhaupt zu unterscheiden; wenn ihr sagen
könntet, was denn ,die Sache' sein soll, sobald man davon absieht, wie sie
erscheint. Nicht, daß wir umgekehrt sagen könnten, es gäbe diesen Berg, jene
Wolke dort nicht, und alles sei Einbildung, Wachtraum oder dergleichen. Nur
können wir ,die Sache' niemals neben ihre Erscheinungen halten - so, aber