530 Die fröhliche Wissenschaft
keiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue „Dinge" zu schaffen.] Lässt die
(mit den Titelworten des Abschnitts beginnende) paradoxale Volte, welche die
offensichtlich angestrebte Destruktion der scheinbaren Wirklichkeit an die Be-
dingung der Produktivität bindet, das künstlerische Schaffen assoziieren, so
schraubt der nach dem Gedankenstrich folgende Schlusssatz die Anforderun-
gen gleich wieder herunter. Es genüge zwar nicht, die vermeintliche Wirklich-
keit als Schein zu entlarven, um sie zu „vernichten", wohl aber, neue Worte
und Werte zu etablieren, um eine neue Realität zu setzen (vgl. hierzu Clark
2015, 2 u. 16 sowie Ure 2019, 85 f.). Der Verdacht, dass diese Realität zwar an-
ders, aber nicht minder scheinbar als die alte ist, kann sich bei dem so formu-
lierten Programm einer „Umwerthung aller Werthe" avant la lettre - die promi-
nente Formel taucht zum ersten Mal in einer nachgelassenen Aufzeichnung
von 1884 auf (vgl. NL 1884, 26[259], KSA 11, 218, 5) - durchaus einstellen.
Zumindest wird nicht behauptet, dass durch die angemahnte schöpferische
Vernichtung ein Zugang zur ,wahren Wirklichkeit' gewonnen werden soll. Die
in distanzierende Anführungszeichen gesetzten neuen „,Dinge'" und die „Wahr-
scheinlichkeiten" sprechen eher dagegen.
422, 26 Wahrscheinlichkeiten] M III 6, 150: „Wagschalen".
422, 27 schaffen.] Μ III 6, 150: „schaffen! -"
59.
Wir Künstler!] Anhand von drei Punkten versucht das als Vorarbeit zu
FW 59 in Betracht kommendes Nachlass-Notat NL 1881, 11[53] eine elementare
Hierarchie zwischen ,höheren' und ,niederen' Menschen zu begründen. Zuerst
thematisiert es vor diesem Hintergrund die (als Schwäche ausgelegte) Verdrän-
gung der biologischen Sicht auf den menschlichen Körper - ein Ansatz, der
zum Fundament der Druckfassung von FW 59 wurde, indem hier die Verdrän-
gung von Körperteilen und -funktionen, die als ekelhaft empfunden werden,
zum künstlerischen Akt führt. Die anderen Aspekte (Erregung von Furcht und
,Wohlwollen‘ im Furchterregen) tangiert die Druckfassung bloß: „Reinigung
der Seele. - Erster Ursprung von höher und niedriger. / Das aesthe-
tisch-Beleidigende am innerlichen Menschen ohne Haut - blutige Massen,
Kothgedärme, Eingeweide, alle jene saugenden pumpenden Unthiere - form-
los oder häßlich oder grotesk, dazu für den Geruch peinlich. Also wegge-
dacht! Was davon doch heraustritt, erregt Scham (Koth Urin Speichel Same)
Frauen mögen nicht vom Verdauen hören. Byron eine Frau nicht essen sehen
(So gehen die Hintergedanken ihren Weg) Dieser durch die Haut verhüllte
keiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue „Dinge" zu schaffen.] Lässt die
(mit den Titelworten des Abschnitts beginnende) paradoxale Volte, welche die
offensichtlich angestrebte Destruktion der scheinbaren Wirklichkeit an die Be-
dingung der Produktivität bindet, das künstlerische Schaffen assoziieren, so
schraubt der nach dem Gedankenstrich folgende Schlusssatz die Anforderun-
gen gleich wieder herunter. Es genüge zwar nicht, die vermeintliche Wirklich-
keit als Schein zu entlarven, um sie zu „vernichten", wohl aber, neue Worte
und Werte zu etablieren, um eine neue Realität zu setzen (vgl. hierzu Clark
2015, 2 u. 16 sowie Ure 2019, 85 f.). Der Verdacht, dass diese Realität zwar an-
ders, aber nicht minder scheinbar als die alte ist, kann sich bei dem so formu-
lierten Programm einer „Umwerthung aller Werthe" avant la lettre - die promi-
nente Formel taucht zum ersten Mal in einer nachgelassenen Aufzeichnung
von 1884 auf (vgl. NL 1884, 26[259], KSA 11, 218, 5) - durchaus einstellen.
Zumindest wird nicht behauptet, dass durch die angemahnte schöpferische
Vernichtung ein Zugang zur ,wahren Wirklichkeit' gewonnen werden soll. Die
in distanzierende Anführungszeichen gesetzten neuen „,Dinge'" und die „Wahr-
scheinlichkeiten" sprechen eher dagegen.
422, 26 Wahrscheinlichkeiten] M III 6, 150: „Wagschalen".
422, 27 schaffen.] Μ III 6, 150: „schaffen! -"
59.
Wir Künstler!] Anhand von drei Punkten versucht das als Vorarbeit zu
FW 59 in Betracht kommendes Nachlass-Notat NL 1881, 11[53] eine elementare
Hierarchie zwischen ,höheren' und ,niederen' Menschen zu begründen. Zuerst
thematisiert es vor diesem Hintergrund die (als Schwäche ausgelegte) Verdrän-
gung der biologischen Sicht auf den menschlichen Körper - ein Ansatz, der
zum Fundament der Druckfassung von FW 59 wurde, indem hier die Verdrän-
gung von Körperteilen und -funktionen, die als ekelhaft empfunden werden,
zum künstlerischen Akt führt. Die anderen Aspekte (Erregung von Furcht und
,Wohlwollen‘ im Furchterregen) tangiert die Druckfassung bloß: „Reinigung
der Seele. - Erster Ursprung von höher und niedriger. / Das aesthe-
tisch-Beleidigende am innerlichen Menschen ohne Haut - blutige Massen,
Kothgedärme, Eingeweide, alle jene saugenden pumpenden Unthiere - form-
los oder häßlich oder grotesk, dazu für den Geruch peinlich. Also wegge-
dacht! Was davon doch heraustritt, erregt Scham (Koth Urin Speichel Same)
Frauen mögen nicht vom Verdauen hören. Byron eine Frau nicht essen sehen
(So gehen die Hintergedanken ihren Weg) Dieser durch die Haut verhüllte