532 Die fröhliche Wissenschaft
neue Moral [zu] erzeugen" (Benne 2013b, 246). Wie dem auch sei: Mit Blick
auf Thomas Mann könnte man jedenfalls auch auf Joseph und seine Brüder
hinweisen, wo die ominöse Botengestalt im Kapitel „Der Mann auf dem Felde"
zu dem schönen Jüngling Joseph sagt: „Solche Geschöpfe wie du sind nichts
als ein flüchtig gleißender Betrug über den inneren Greuel alles Fleisches unter
der Oberfläche. Ich sage nicht, daß auch nur diese Haut und Hülle vom Appe-
titlichsten wäre mit ihren dünstenden Poren und Schweißhaaren; aber ritze sie
nur ein wenig, und die salzige Brühe geht frevelrot hervor, und weiter innen
wird's immer greulicher und ist eitel Gekröse und Gestank. Das Hübsche und
Schöne müßte durch und durch hübsch und schön sein, massiv und aus edlem
Stoff, nicht ausgefüllt mit Leimen und Unrat." (Mann 2001 ff., 7/1, 526)
422, 29-423, 1 Wenn wir ein Weib lieben, so haben wir leicht einen Hass auf
die Natur, aller der widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib
ausgesetzt ist) Wieder aufgenommen und weiter gesponnen wird hiermit das
Motiv der „verliebten Künstler" aus FW 57 (421, 12). Bei den „widerlichen Natür-
lichkeiten" der weiblichen Existenz, deretwegen verliebte Künstler in idealisie-
render Perspektive leicht die Natur hassen, ist an Menstruation, Schwanger-
schaft, Geburt und Milchfluss zu denken (vgl. auch „die Widerlichkeiten [...]
der Schwangerschaft" in GM III 4, KSA 5, 343, 25 f.). Zu diesen „merkwürdige[n]
Vorgängen des weiblichen Lebens" als Gegenstand der sich im 19. Jahrhundert
als Teildisziplin der Medizin etablierenden Gynäkologie vgl. das frühe Lehr-
buch von Carus 1820, 1, 5. Dass das „Weib [...] im Gegensätze zum Manne" in
einem engeren „Verhältnisse[]" zum „Naturleben" stehe, mithin mehr als jener
„Naturwesen" sei (Klencke 1851, V f.), war Mitte des 19. Jahrhunderts noch gän-
gige Ansicht in der jungen Gynäkologie, wie diese Formulierungen aus dem
Buch Das Naturleben des Weibes von Hermann Klencke zeigen. Mit Blick da-
rauf, wie diese Ansicht zu Beginn von FW 59 aufgegriffen wird, gibt Graybeal
1990, 28 zu bedenken, dass „in reality, every human being, whether male or
female, is actually ,subject' to all the repulsive natural ,functions"'; vgl. ähn-
lich Hudgens 2016, 182 f. In der Tat zieht das - offenkundig männliche - spre-
chende Wir im vorliegenden Abschnitt zunächst eine strikte biologische Grenze
zwischen Männern und Frauen, indem es ausschließlich letztere der „widerli-
chen" Dimension der „Natur" unterworfen sieht. Allerdings ist dann im Weite-
ren geschlechtsübergreifend von ,dem Menschen' und von „allen Liebenden"
(423, 10) die Rede. Über die Physiologie der Liebe informierte sich N. in der
1877 erschienenen gleichnamigen Übersetzung der zweiten Auflage von Paolo
Mantegazzas sexualwissenschaftlichem Standardwerk Fisiologia dell'amore,
das N. während seiner Arbeit an der Erstausgabe von FW (im Februar 1882)
erwarb.
neue Moral [zu] erzeugen" (Benne 2013b, 246). Wie dem auch sei: Mit Blick
auf Thomas Mann könnte man jedenfalls auch auf Joseph und seine Brüder
hinweisen, wo die ominöse Botengestalt im Kapitel „Der Mann auf dem Felde"
zu dem schönen Jüngling Joseph sagt: „Solche Geschöpfe wie du sind nichts
als ein flüchtig gleißender Betrug über den inneren Greuel alles Fleisches unter
der Oberfläche. Ich sage nicht, daß auch nur diese Haut und Hülle vom Appe-
titlichsten wäre mit ihren dünstenden Poren und Schweißhaaren; aber ritze sie
nur ein wenig, und die salzige Brühe geht frevelrot hervor, und weiter innen
wird's immer greulicher und ist eitel Gekröse und Gestank. Das Hübsche und
Schöne müßte durch und durch hübsch und schön sein, massiv und aus edlem
Stoff, nicht ausgefüllt mit Leimen und Unrat." (Mann 2001 ff., 7/1, 526)
422, 29-423, 1 Wenn wir ein Weib lieben, so haben wir leicht einen Hass auf
die Natur, aller der widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib
ausgesetzt ist) Wieder aufgenommen und weiter gesponnen wird hiermit das
Motiv der „verliebten Künstler" aus FW 57 (421, 12). Bei den „widerlichen Natür-
lichkeiten" der weiblichen Existenz, deretwegen verliebte Künstler in idealisie-
render Perspektive leicht die Natur hassen, ist an Menstruation, Schwanger-
schaft, Geburt und Milchfluss zu denken (vgl. auch „die Widerlichkeiten [...]
der Schwangerschaft" in GM III 4, KSA 5, 343, 25 f.). Zu diesen „merkwürdige[n]
Vorgängen des weiblichen Lebens" als Gegenstand der sich im 19. Jahrhundert
als Teildisziplin der Medizin etablierenden Gynäkologie vgl. das frühe Lehr-
buch von Carus 1820, 1, 5. Dass das „Weib [...] im Gegensätze zum Manne" in
einem engeren „Verhältnisse[]" zum „Naturleben" stehe, mithin mehr als jener
„Naturwesen" sei (Klencke 1851, V f.), war Mitte des 19. Jahrhunderts noch gän-
gige Ansicht in der jungen Gynäkologie, wie diese Formulierungen aus dem
Buch Das Naturleben des Weibes von Hermann Klencke zeigen. Mit Blick da-
rauf, wie diese Ansicht zu Beginn von FW 59 aufgegriffen wird, gibt Graybeal
1990, 28 zu bedenken, dass „in reality, every human being, whether male or
female, is actually ,subject' to all the repulsive natural ,functions"'; vgl. ähn-
lich Hudgens 2016, 182 f. In der Tat zieht das - offenkundig männliche - spre-
chende Wir im vorliegenden Abschnitt zunächst eine strikte biologische Grenze
zwischen Männern und Frauen, indem es ausschließlich letztere der „widerli-
chen" Dimension der „Natur" unterworfen sieht. Allerdings ist dann im Weite-
ren geschlechtsübergreifend von ,dem Menschen' und von „allen Liebenden"
(423, 10) die Rede. Über die Physiologie der Liebe informierte sich N. in der
1877 erschienenen gleichnamigen Übersetzung der zweiten Auflage von Paolo
Mantegazzas sexualwissenschaftlichem Standardwerk Fisiologia dell'amore,
das N. während seiner Arbeit an der Erstausgabe von FW (im Februar 1882)
erwarb.