Stellenkommentar FW 59, KSA 3, S. 422-423 533
Angesichts dessen, dass es das titelgebende „Wir Künstler" ist, welches
hier von seiner Liebe zum „Weib" spricht, ist auch auf die übertragene Bedeu-
tung von Schwangerschaft und Geburt hinzuweisen, die sich bei N. bis ins
Spätwerk hinein wiederholt findet: Im Zuge einer übergreifenden Analogisie-
rung von Frauen und Künstlern bzw. Schriftstellern werden diese im zu kom-
mentierenden Passus in frappierender Leibfeindlichkeit als „widerliche[]
Natürlichkeiten" bezeichneten physiologischen Vorgänge oft als ästhetisch-
poetologische Metaphern für den Prozess des künstlerischen wie literarischen
Schaffens verwendet. So thematisiert beispielsweise FW 72 „die geistige
Schwangerschaft [...] der Contemplativen" als den Zustand der „männlichen
Mütter" (430, 12-15); vgl. weiterführend den Stellenkommentar zu diesem Ab-
schnitt. Als Beleg dafür, ,,[w]ie tief Nietzsche in das weibliche Gemüt sich ein-
zufühlen vermochte", liest in heute kaum noch nachvollziehbarer Weise En-
dres 1938, 75 den Anfang von FW 59, den er in dieser Hinsicht neben FW 65
stellt. Vgl. dagegen Higgins 2000, 80, die der Passage einen „rather disgusted
tone" bescheinigt und von „squeamishness" gegenüber dem weiblichen Kör-
per spricht.
423, 7 Physiologie und decretirt für sich insgeheim] In Cb, 85 mit Randstrich
markiert: „Philologie und dekretirt für sich ins Geheim".
423, 8 f. dass der Mensch noch etwas Anderes ist, äusser Seele und Form]
Die hiermit gemeinte Sphäre des Leiblichen, die der verliebte Künstler auszu-
klammern sucht, obwohl er doch von ihr weiß, verweist auf eine psycho-phy-
siologische Anthropologie des ,ganzen Menschen', wie sie ideengeschichtlich
im 18. Jahrhundert wurzelt und von N. des Öfteren aktualisierend aufgegriffen
wird, so auch in FW, insbesondere in der Vorrede zur Neuausgabe von 1887
(vgl. NK 349, 7-10). Hinter der durch Sperrdruck hervorgehobenen Verbindung
von Seele und Form, auf welche sich der idealistisch Liebende allein konzen-
trieren will, steht eine ältere philosophisch-anthropologische Tradition, die bis
zu Platon und Aristoteles zurückreicht. Für Aristoteles etwa war die Seele das
formgebende Prinzip des Leibes und insofern das Primordiale; in Ueberwegs
Grundriss der Geschichte der Philosophie, den N. besaß, wird diese Seele-als-
Form-Lehre so zusammengefasst: „Als έντελέχεια des Leibes ist die Seele zu-
gleich dessen Form (principium formans), Bewegungsprincip und Zweck; [...]
der ganze Leib ist um der Seele willen vorhanden." (Ueberweg 1867, 168) Die
Betrachtung des Leibes als seelische Form bestimmt auch noch die klassizisti-
sche Ästhetik der Neuzeit, die in den Götter- und Heroen-Statuen der klassi-
schen Antike das Ideal einer durchgeistigten Schönheit des menschlichen Kör-
pers erblickte. Paradigmatisch wirkten hierbei Winckelmanns Gedancken über
die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst
von 1755.
Angesichts dessen, dass es das titelgebende „Wir Künstler" ist, welches
hier von seiner Liebe zum „Weib" spricht, ist auch auf die übertragene Bedeu-
tung von Schwangerschaft und Geburt hinzuweisen, die sich bei N. bis ins
Spätwerk hinein wiederholt findet: Im Zuge einer übergreifenden Analogisie-
rung von Frauen und Künstlern bzw. Schriftstellern werden diese im zu kom-
mentierenden Passus in frappierender Leibfeindlichkeit als „widerliche[]
Natürlichkeiten" bezeichneten physiologischen Vorgänge oft als ästhetisch-
poetologische Metaphern für den Prozess des künstlerischen wie literarischen
Schaffens verwendet. So thematisiert beispielsweise FW 72 „die geistige
Schwangerschaft [...] der Contemplativen" als den Zustand der „männlichen
Mütter" (430, 12-15); vgl. weiterführend den Stellenkommentar zu diesem Ab-
schnitt. Als Beleg dafür, ,,[w]ie tief Nietzsche in das weibliche Gemüt sich ein-
zufühlen vermochte", liest in heute kaum noch nachvollziehbarer Weise En-
dres 1938, 75 den Anfang von FW 59, den er in dieser Hinsicht neben FW 65
stellt. Vgl. dagegen Higgins 2000, 80, die der Passage einen „rather disgusted
tone" bescheinigt und von „squeamishness" gegenüber dem weiblichen Kör-
per spricht.
423, 7 Physiologie und decretirt für sich insgeheim] In Cb, 85 mit Randstrich
markiert: „Philologie und dekretirt für sich ins Geheim".
423, 8 f. dass der Mensch noch etwas Anderes ist, äusser Seele und Form]
Die hiermit gemeinte Sphäre des Leiblichen, die der verliebte Künstler auszu-
klammern sucht, obwohl er doch von ihr weiß, verweist auf eine psycho-phy-
siologische Anthropologie des ,ganzen Menschen', wie sie ideengeschichtlich
im 18. Jahrhundert wurzelt und von N. des Öfteren aktualisierend aufgegriffen
wird, so auch in FW, insbesondere in der Vorrede zur Neuausgabe von 1887
(vgl. NK 349, 7-10). Hinter der durch Sperrdruck hervorgehobenen Verbindung
von Seele und Form, auf welche sich der idealistisch Liebende allein konzen-
trieren will, steht eine ältere philosophisch-anthropologische Tradition, die bis
zu Platon und Aristoteles zurückreicht. Für Aristoteles etwa war die Seele das
formgebende Prinzip des Leibes und insofern das Primordiale; in Ueberwegs
Grundriss der Geschichte der Philosophie, den N. besaß, wird diese Seele-als-
Form-Lehre so zusammengefasst: „Als έντελέχεια des Leibes ist die Seele zu-
gleich dessen Form (principium formans), Bewegungsprincip und Zweck; [...]
der ganze Leib ist um der Seele willen vorhanden." (Ueberweg 1867, 168) Die
Betrachtung des Leibes als seelische Form bestimmt auch noch die klassizisti-
sche Ästhetik der Neuzeit, die in den Götter- und Heroen-Statuen der klassi-
schen Antike das Ideal einer durchgeistigten Schönheit des menschlichen Kör-
pers erblickte. Paradigmatisch wirkten hierbei Winckelmanns Gedancken über
die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst
von 1755.