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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0557
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534 Die fröhliche Wissenschaft

423, 9-11 „Der Mensch unter der Haut" ist allen Liebenden ein Greuel und Unge-
danke, eine Gottes- und Liebeslästerung.] Über das organische Innenleben des
Menschen heißt es schon 1873 in WL 1: „Was weiss der Mensch eigentlich von
sich selbst! [...] Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über
seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen
Fluss der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauk-
lerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschliessen!" (KSA 1, 877, 2 f. u. 5-
9) Während hier allerdings noch an einen allgemeinen menschlichen Selbstbe-
zug zum bzw. Selbstbetrug über den eigenen Körper zu denken ist, führt FW 59
das Verschweigen' des Organischen zunächst auf das Gefühl der Liebe zurück.
Dass Nicht-Liebende ein deutlich entspannteres Verhältnis zum Menschen „un-
ter der Haut" haben könnten, lässt der Text jedenfalls als Möglichkeit offen.
Zur christlichen Verabscheuung des menschlichen Leibes und der Natur über-
haupt, die sodann mit der Erwähnung der „Gottes[]lästerung" aufgerufen und
im Folgenden noch weiter ausbuchstabiert wird, vgl. auch den von Papst Inno-
zenz III. aufgestellten und in GMII 7, KSA 5, 303, 4-7 (nach Mainländer 1876)
zitierten ,Widerwärtigkeitskatalog': „unreine Erzeugung, ekelhafte Ernährung
im Mutterleibe, Schlechtigkeit des Stoffs, aus dem der Mensch sich entwickelt,
scheusslicher Gestank, Absonderung von Speichel, Urin und Koth" (vgl. NK
KSA 5, 303, 2-7).
Menninghaus 1999, 239, der die Rede des in FW 59 sprechenden Wir ohne
Umschweife mit N.s eigener Meinung gleichsetzt, deutet den gesamten Beginn
des Abschnitts bis zum vorliegenden Satz als Bekenntnis zu einer ästhetischen
Verneinung des Körperinneren, die aber von der christlich-moralischen zu un-
terscheiden sei: „Als künstlerische ,Verhehl[ung] der Natürlichkeit' [...] wird der
Körper ohne Innen gleichwohl auch von Nietzsche legitimiert. Die Idealisie-
rung in der Liebe ist ihm Zeichen der gleichen lebensnotwendigen Kraft der
Illusion [...]. Nietzsche unterscheidet also, bei aller Kritik der Körper-Verleug-
nung, sehr scharf zwischen deren Spielarten in der ästhetischen und verliebten
,Illusion' und der moralischen Forderung einer Körper-Verneinung". Dass es
sich indes gerade nicht um eine scharfe Unterscheidung handelt, sondern die
Haltung des idealistisch Liebenden mit der von Gottes- und Moralverfechtern
parallelisiert wird, macht der Fortgang des Textes deutlich.
423, 11-18 Nun, so wie jetzt noch der Liebende empfindet, in Hinsicht der Natur
und Natürlichkeit, so empfand ehedem jeder Verehrer Gottes und seiner „heiligen
Allmacht": bei Allem, was von der Natur gesagt wurde, durch Astronomen, Geo-
logen, Physiologen, Aerzte, sah er einen Eingriff in seinen köstlichsten Besitz und
folglich einen Angriff, - und noch dazu eine Schamlosigkeit des Angreifenden!
Das „Naturgesetz" klang ihm schon wie eine Verleumdung Gottes] Nachdem das
Künstler-Wir zunächst von der eigenen Tendenz zum Natur-Hass im hypotheti-
 
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