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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0558
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Stellenkommentar FW 59, KSA 3, S. 423 535

sehen Fall seiner Liebe zu einer Frau ausgegangen war, um daraufhin für
Liebende überhaupt zu sprechen, wird nun der analogisierende Blick zurück
auf eine Vergangenheit („ehedem") gerichtet, in der sich alle Gottes-Verehrer
durch Natur, Naturwissenschaft und Naturgesetz angegriffen fühlten. Diese
Engführung bereitet schon die gegen Ende des Textes erfolgende selbstreferen-
tielle Gleichsetzung von Künstlern und „Gottsüchtigen" (423, 33) vor. Als histo-
rischer Beleg für die religiös motivierte Ablehnung der auf Gesetzmäßigkeiten
ausgerichteten wissenschaftlichen Erfassung der Natur in der Frühen Neuzeit
ließe sich exemplarisch Galileo Galileis Konflikt mit der Kurie nach der Veröf-
fentlichung seiner Schrift II Saggiatore (1623) anführen, in der er dafür argu-
mentierte, dass das ,Buch der Natur' in einer mathematischen Schrift verfasst
sei. Hans Blumenberg bemerkt über den sich daran anschließenden Inquisiti-
onsprozess gegen Galilei: „Der Papst [Urban VIII.] verteidigte nicht einen per-
sönlichen Einfall, sondern die Essenz des theologischen Besitzes der Institu-
tion, deren Haupt er war. [...] Es ist nicht nur der theologische Vorbehalt
gegenüber einer und dieser bestimmten Theorie, sondern der Generalvorbehalt
der Theologie gegenüber jeder Naturerklärung, der Ausschluss jedes Bezuges
physikalischer Aussagen auf die Wahrheit der Natur." (Blumenberg 1965, 64 u.
66; vgl. hierzu auch Holz 1997, 1, 114-118) Trifft sich Blumenbergs Einschätzung
prinzipiell mit der These des in FW 59 sprechenden Wir, so behauptet hingegen
die Sprechinstanz des Abschnitts FW 109 im Dritten Buch, dass auch die -
ihres Erachtens irrige - Annahme, es gebe „Gesetze in der Natur" (468, 24)
noch auf die alte Vorstellung von der Natur als Schöpfung Gottes verweise.
423, 22-32 Oh diese Menschen von ehedem haben verstanden zu träumen
und hatten nicht erst nöthig, einzuschlafen! - und auch wir Menschen von heute
verstehen es noch viel zu gut, mit allem unseren guten Willen zum Wachsein und
zum Tage! Es genügt, zu lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt zu empfin-
den, - sofort kommt der Geist und die Kraft des Traumes über uns, und wir
steigen offenen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen
empor, hinauf auf die Dächer und Thürme der Phantasterei, und ohne allen
Schwindel, wie geboren zum Klettern - wir Nachtwandler des Tages!] Nach dem
kurzen Exkurs über die Gottesverehrer der Vergangenheit, die von der Natur
und ihren Gesetzen nichts wissen wollten, kehrt das sprechende Wir in die
eigene Gegenwart zurück und bekräftigt die zuvor schon gezogene Parallele:
Ungeachtet „unsere[s] guten Willen[s] zum Wachsein und zum Tage", der an
„unser[en] guten Wille[n], über die Trunkenheit hinauszukommen" (422, 5 f.),
aus FW 57 erinnert, seien auch ,wir' noch immer Wachträumer, wie in selbstkri-
tischem Ton („noch viel zu ...") festgestellt wird. Zum „Nachtwandler"-Motiv
vgl. ähnlich bereits FW 54 (417, 3-6). Das schwindelfreie Hinaufklettern auf
„Dächer und Thürme", dessen sich das Wir im vorliegenden Passus rühmt,
 
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