738 Die fröhliche Wissenschaft
dieser Dienstleistung.] Im Korrekturbogen steht stattdessen noch: „wir erinnern
uns, dass wir den Lügner und das Belogenwerden gern haben und hochstellen,
vorausgesetzt, dass Kunst dabei ist." (Cb, 133) Als Vorarbeit für die Korrektur
kommt das Notat NL 1881, 11[285], KSA 9, 550 in Betracht, das auf die romanti-
sche Kunstmetaphysik von GT (vgl. auch das Selbstzitat in 464, 23-25) anspielt
und schon die wesentlichen Motive der späteren Korrektur enthält, auch wenn
dabei noch von einem Gott statt von einer Göttin die Rede ist: „Ehemals dachte
ich, unser Dasein sei der künstlerische Traum eines Gottes, alle unsere Gedan-
ken und Empfindungen im Grunde seine Erfindungen im Ausdichten seines
Drama's - auch daß wir meinten, ,ic h dächte' ,ich handelte' sei sein Gedan-
ke. Die Gesetzmäßigkeit der Natur wäre als Gesetzmäßigkeit seiner Vorstellun-
gen begreiflich - oder auch es genügte, daß er uns als solche dächte, wel-
che die Natur so empfinden wie wir sie empfinden. - Kein glücklicher, sondern
eben ein Künstler-Gott!" Vgl. auch die folgende zeitnah entstandene und ge-
danklich verwandte Aufzeichnung: „Wir kommen über die Ästhetik nicht hi-
naus - ehemals glaubte ich, ein Gott machte sich das Vergnügen, die Welt
anzusehen: aber wir haben das Wesen einer Welt, welche die Menschen all-
mählich geschaffen haben: ihre Ästhetik." (NL 1881, 12[29], KSA 9, 581)
In der ,Reinschrift' zu FW 285 steht anstelle von 527, 29-528, 2 noch eine
Variante des hier zu kommentierenden Passus, die erst im Korrekturbogen er-
setzt wurde: „du willst 'wirst' es fürderhin deinem Auge verwehren, auszurun-
den, zu Ende zu dichten, du wülstdas 'wirst Alles als das ewig' Unvollkomme-
ne auf deinen Rücken nehmen 'und' ohne den Wahn, daß du eine Göttin über
den Fluß trägst" (Μ III 6, 220). Noch im Korrekturbogen war der so veränderte
Passus, wie gesagt, zunächst für FW 285 vorgesehen (vgl. Cb, 204), wurde dann
jedoch gestrichen und umformuliert - sowie semantisch ins genaue Gegenteil
verkehrt - in FW 107 integriert. Ausführlich hierzu siehe bereits Brusotti 1997b,
419-421. Zur ästhetisch-projektiven Vervollkommnung von faktisch Unvoll-
kommenem vgl. neben FW 276 auch FW 299 sowie bereits FW 79, wo sich das
Motiv eines „Dichter[s]" findet, der „durch seine Unvollkommenheiten einen
höheren Reiz ausübt, als durch alles Das, was sich unter seiner Hand rundet
und vollkommen gestaltet" (434, 20-23) - die Abrundung und Vervollkomm-
nung übernehmen in diesem Fall die Rezipienten. Vorgeprägt findet sich die -
auch in FW Vorrede 4 - zum Ausdruck kommende Vorstellung von der lebens-
erhaltenden Potenz von (ästhetischen) Illusionen bei dem von N. rezipierten
und wertgeschätzten italienischen Dichter Giacomo Leopardi, der von „ingan-
no necessario" sprach (vgl. hierzu Wuthenow 1982, 303 u. 307). Als Quelle für
das Bild des ,ausrundenden Auges' könnte Emerson 1858, 328 gedient haben,
wo N. von dem „Auge des abrundenden Geistes" lesen konnte, „welches den
Horizont bildet". (N.s Unterstreichung, außerdem mit Randstrich versehen)
dieser Dienstleistung.] Im Korrekturbogen steht stattdessen noch: „wir erinnern
uns, dass wir den Lügner und das Belogenwerden gern haben und hochstellen,
vorausgesetzt, dass Kunst dabei ist." (Cb, 133) Als Vorarbeit für die Korrektur
kommt das Notat NL 1881, 11[285], KSA 9, 550 in Betracht, das auf die romanti-
sche Kunstmetaphysik von GT (vgl. auch das Selbstzitat in 464, 23-25) anspielt
und schon die wesentlichen Motive der späteren Korrektur enthält, auch wenn
dabei noch von einem Gott statt von einer Göttin die Rede ist: „Ehemals dachte
ich, unser Dasein sei der künstlerische Traum eines Gottes, alle unsere Gedan-
ken und Empfindungen im Grunde seine Erfindungen im Ausdichten seines
Drama's - auch daß wir meinten, ,ic h dächte' ,ich handelte' sei sein Gedan-
ke. Die Gesetzmäßigkeit der Natur wäre als Gesetzmäßigkeit seiner Vorstellun-
gen begreiflich - oder auch es genügte, daß er uns als solche dächte, wel-
che die Natur so empfinden wie wir sie empfinden. - Kein glücklicher, sondern
eben ein Künstler-Gott!" Vgl. auch die folgende zeitnah entstandene und ge-
danklich verwandte Aufzeichnung: „Wir kommen über die Ästhetik nicht hi-
naus - ehemals glaubte ich, ein Gott machte sich das Vergnügen, die Welt
anzusehen: aber wir haben das Wesen einer Welt, welche die Menschen all-
mählich geschaffen haben: ihre Ästhetik." (NL 1881, 12[29], KSA 9, 581)
In der ,Reinschrift' zu FW 285 steht anstelle von 527, 29-528, 2 noch eine
Variante des hier zu kommentierenden Passus, die erst im Korrekturbogen er-
setzt wurde: „du willst 'wirst' es fürderhin deinem Auge verwehren, auszurun-
den, zu Ende zu dichten, du wülstdas 'wirst Alles als das ewig' Unvollkomme-
ne auf deinen Rücken nehmen 'und' ohne den Wahn, daß du eine Göttin über
den Fluß trägst" (Μ III 6, 220). Noch im Korrekturbogen war der so veränderte
Passus, wie gesagt, zunächst für FW 285 vorgesehen (vgl. Cb, 204), wurde dann
jedoch gestrichen und umformuliert - sowie semantisch ins genaue Gegenteil
verkehrt - in FW 107 integriert. Ausführlich hierzu siehe bereits Brusotti 1997b,
419-421. Zur ästhetisch-projektiven Vervollkommnung von faktisch Unvoll-
kommenem vgl. neben FW 276 auch FW 299 sowie bereits FW 79, wo sich das
Motiv eines „Dichter[s]" findet, der „durch seine Unvollkommenheiten einen
höheren Reiz ausübt, als durch alles Das, was sich unter seiner Hand rundet
und vollkommen gestaltet" (434, 20-23) - die Abrundung und Vervollkomm-
nung übernehmen in diesem Fall die Rezipienten. Vorgeprägt findet sich die -
auch in FW Vorrede 4 - zum Ausdruck kommende Vorstellung von der lebens-
erhaltenden Potenz von (ästhetischen) Illusionen bei dem von N. rezipierten
und wertgeschätzten italienischen Dichter Giacomo Leopardi, der von „ingan-
no necessario" sprach (vgl. hierzu Wuthenow 1982, 303 u. 307). Als Quelle für
das Bild des ,ausrundenden Auges' könnte Emerson 1858, 328 gedient haben,
wo N. von dem „Auge des abrundenden Geistes" lesen konnte, „welches den
Horizont bildet". (N.s Unterstreichung, außerdem mit Randstrich versehen)