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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0763
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740 Die fröhliche Wissenschaft

philosophischer ,Erstlingsschrift' GT. So heißt es in GT 5, KSA 1, 47, 26 f.: „denn
nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig ge-
rechtfertigt". Diese Behauptung wird in GT 24 (KSA 1, 152, 19 f. u. 29 f.) noch
zweimal bekräftigend wiederholt. Im Vergleich mit der späteren Variante in
FW 107 erscheint die Wendung aus GT alternativlos („nur als") und stärker als
Ausdruck einer ästhetischen Kosmodizee („gerechtfertigt"). Im Hinter-
grund stehen in GT denn auch völlig andere Voraussetzungen als in FW 107,
namentlich die von Schopenhauer übernommene pessimistische Willensmeta-
physik, der gemäß der frühe N. das ,dionysische' „Ur-Eine[]" (GT 1, KSA 1, 30,
If.) als leidenden Weltgrund bestimmt, der sich durch den Künstler in lustvol-
len apollinischen Visionen erlöst. In FW 107 ist die „Gegenmacht" (464, 17) der
illusionären Kunst nicht irgendein metaphysischer Leidensgrund, sondern der
ohne Kunst nicht auszuhaltende „Ekel" (464, 16) im Gefolge einer desillusie-
renden Wissenschaft.
Bemerkenswerterweise hebt auch die - wie die Vorrede zu FW - im Jahr
1886 entstandene Vorrede zu GT mit dem Titel „Versuch einer Selbstkritik" vor-
nehmlich auf den Aspekt der ästhetischen Daseinsrechtfertigung ab. Insbeson-
dere im fünften Abschnitt der Vorrede rückt er in den Vordergrund, und zwar
keineswegs ,selbstkritisch', sondern durchaus zustimmend - als die gültige,
bleibende Einsicht jener frühen Schrift. Der Abschnitt beginnt mit dem Verweis
auf die kunstmetaphysische Tendenz der Widmung an Wagner: „Bereits im
Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst - und nicht die Moral - als die
eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen hingestellt; im Buche
selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach wieder, dass nur als ästhetisches
Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist." (KSA 1, 17, 8-12) Die
sich darin ausdrückende „Artisten-Metaphysik" (ebd., 17, 23 f.) deute nämlich
bereits auf eine Haltung voraus, für die „alles Leben [...] auf Schein, Kunst,
Täuschung" beruht (ebd., 18, 20 f.). Dabei handelt es sich freilich auch um eine
Umdeutung der ,Erstlingsschrift', worauf bereits Behler 1986, 133, aufmerksam
gemacht hat: „Natürlich sind dies Leseanweisungen des Nietzsche von 1886,
die uns veranlassen sollen, seine frühe Schrift [...] im Rahmen seiner späteren
Philosophie zu lesen." Wenngleich hierzu kritisch anzumerken bleibt, dass es
eine „spätere[] Philosophie" N.s nicht in einheitlichem Sinn gibt, lässt sich
sagen, dass auch die Äußerung in 464, 23-25 bereits in die Richtung einer sol-
chen nachträglichen Umdeutung der These über die ästhetische Rechtfertigung
des Daseins in GT geht.
464, 27 f. Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen] Während das auktoriale Wir
im vierten Abschnitt der Vorrede jener philosophischen Wahrheit, in deren Ab-
gründen es sich vorher herumgetrieben haben will, gänzlich entsagt, um statt-
 
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