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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0771
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748 Die fröhliche Wissenschaft

sem Abschnitt, die sich auf verschiedene Textteile beziehen (vgl. die jeweiligen
Stellenkommentare). Eine ,Vorstufe' des gesamten Abschnitts, die wesentliche
Aussagen bereits schlagwortartig präfiguriert, hebt noch lediglich auf die Vor-
stellung vom All als Organismus ab, ohne ihr Gegenmodell, das All als Maschi-
ne, zu erwähnen: „Hütet euch zu sagen, daß die Welt ein lebendiges Wesen
sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen! Woher sollte sie sich nähren! Wie könnte
sie wachsen und sich vermehren! / - Hütet euch zu sagen, daß Tod dem Leben
entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten: und eine seltene
Art. / - Hütet euch zu sagen, die Welt schaffe ewig Neues. / [...] / Hütet euch
zu sagen, es gebe Gesetze in der Natur. Es giebt nur Nothwendigkeiten: da ist
keiner der befiehlt, keiner, der gehorcht, keiner der übertritt. / - Wenn ihr
wißt, daß es keine Zwecke giebt, so wißt ihr auch, daß es keinen Zufall giebt.
Denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort Zufall einen Sinn. / -
Hütet euch zu denken, es gebe ewig dauerhafte Substanzen, wenn auch noch
so klein: das Atom ist ein solcher Irrtum wie der Gott der Eleaten. Es giebt
Büschel wie Kraftlinien, deren Ende mathemat[ische] Punkte sind, aber keine
materiellen. Es giebt so wenig Materie als es einen Gott giebt." (Μ III 1, 49)
Auffällig erscheint, dass hier noch in der zweiten statt, wie in der Druckfas-
sung, in der ersten Person Plural gesprochen wird. Aus der distanzierten Anre-
de eines Ihr wird schließlich die Selbstermahnung eines Wir.
Bei der Titel-Formel „Hüten wir uns", die nicht nur im gedruckten Text
FW 109 insgesamt siebenmal wiederholt wird - dreimal in der ersten, viermal
in der zweiten Texthälfte -, sondern auch in verschiedenen Nachlass-Notaten
aus dem genannten Manuskriptheft auftaucht, handelt es sich laut D'lorio
2006, 108 um eine parodierende Anspielung auf eine Stelle aus Eugen Düh-
rings Cursus der Philosophie von 1875. Dühring schreibt darin gegen die in
Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten (1869) entwickelte Vor-
stellung eines endlichen Weltprozesses: „Hüten wir uns jedoch vor solchen
oberflächlichen Voreiligkeiten; denn die einmal gegebene Existenz des Univer-
sums ist keine gleichgültige Episode zwischen zwei Zuständen der Nacht, son-
dern der einzige feste und lichte Grund, von dem aus wir unsere Rückschlüsse
und Vorwegnahmen bewerkstelligen" (Dühring 1875a, 85; von Nietzsche mit
Randstrich und Ausrufezeichen markiert). In Frage kommt als Bezugstext aber
auch Hans Vaihingers Forschungsbericht Der gegenwärtige Stand des kosmolo-
gischen Problemes, der im 11. Jahrgang der Philosophischen Monatshefte von
1875 erschienen war und um dessen Zusendung N. seinen Freund Overbeck
im Brief vom 20./21. August 1881 gebeten hatte. Vaihinger schreibt mit Bezug
auf die beiden damals aktuellen, konkurrierenden Analogie-Modelle, die das
Universum entweder als Organismus oder als Maschine begreifen: „Man muss
sich hüten, auf dem Altar der Analogie die Logik zu opfern; dies ist den ge-
 
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