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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 2. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73067#0009
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1050 Die fröhliche Wissenschaft

sehen' Heiligen der Lazzeroni, der in seiner halb tierhaften Körperlichkeit ganz
der Gegenwart lebt, dieser Tyrann des Menschen des Südens" (vgl. Stendhal
1854b, 86). Wie dem auch sei, jedenfalls experimentiert N. im Frühjahr und
Sommer 1882 mit verschiedenen Werkgliederungen (zu FW), in denen „Sanctus
Januarius" entweder als Titel eines ,ersten Buchs' (vgl. NL 1882, 19[11], KSA 9,
678, 17; NL 1882, 19[12], KSA 9, 678, 21) oder selbst als Werktitel (vgl. NL 1882,
19[14], KSA 9, 679, 12-14 = M III 6, 276) oder als Untertitel von FW (NL 1882,
l[104], KSA 10, 35, 5 f.) auftaucht. Das zwischen Frühjahr und Sommer 1882
benutzte Quartheft M III 3 enthält folgende ,Vorstufe' des Mottogedichts: „Der
du mit dem Flammenspeere / Meiner Seele Eis zertheilt, / Daß sie brausend
nun zum Meere / Ihrer höchsten Hoffnung eilt: / Schönster aller Januare" (M III
3, 1). In Briefen an verschiedene Adressaten, die N. nach Erscheinen der Erst-
ausgabe zwischen August und Dezember 1882 verfasst, nennt er das Vierte
Buch oft nur „den Sanctus Januarius" und macht darauf besonders aufmerk-
sam. Und wenn er (vermutlich am 15. September 1882) an Paul Ree schreibt:
,„Auch die Tugenden werden bestraft' - sagte der weise Sanctus Januarius von
Genua." (KSB 6/KGB III 1, Nr. 303, S. 258, Z. 19 f.), dann meint er damit direkt
sich selbst.
Der lateinische Name „Sanctus Januarius" steht zu Beginn von FW IV in
einem paratextuellen Doppelbezug: Zum einen handelt es sich offenkundig um
den Untertitel des Vierten Buchs, zum anderen liegt es nahe, ihn zugleich als
Überschrift des Mottogedichts zu lesen, dessen Beginn mit der Apostrophe
„Der du" (521, 3) sich auf jenen ,umgestalteten' Heiligen zu beziehen scheint,
was durch den Schlussvers des Gedichts „Schönster Januarius" (521, 10) erhär-
tet wird. Dabei ergeben sich deutliche Parallelen zwischen dem Mottogedicht
an den „Sanctus Januarius", unterschrieben mit „Genua im Januar 1882" (521,
11), und der nachträglichen, auto(r)fiktionalen Vorrede aus „Ruta bei Genua, /
im Herbst 1886" (352, 32 f.). Vor allem das dort mit dem Leitthema der „Gene-
sung" (z. B. 345, 20 f.) verbundene Motiv „des Thauwinds", der „ebenso an die
Nähe des Winters als an den Sieg über den Winter gemahnt" (345, 8-11), sowie
die Rede von einem die „Vereisung" brechenden, hoffnungsfrohen „Vorge-
fühl [...] von wieder offenen Meeren" (346, 4-8), erinnert merklich an die Wir-
kung des Heiligen Januarius, wie sie das Mottogedicht des Vierten Buchs be-
schreibt: „Der du mit dem Flammenspeere / Meiner Seele Eis zertheilt, / Dass
sie brausend nun zum Meere / Ihrer höchsten Hoffnung eilt: / Heller stets und
stets gesunder" (521, 3-7). Diesem brausenden Eilen der vom Eise befreiten
Seele entspricht an späterer Stelle, in FW Anhang An den Mistral, die Apostro-
phierung des meerwärts wehenden Mistral-Windes als „Wolken-Jäger, / Trüb-
sal-Mörder, Himmels-Feger, / Brausender" (649, 19-21), mit dem sich das lyri-
sche Ich als „Eines Looses" (649, 23) empfindet. Überhaupt weist der lyrische
Sprechduktus, das ,presto furioso' beider Gedichte starke Gemeinsamkeiten
 
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