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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0030
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Überblickskommentar 11

mung beflügelt zu haben: „Die Leidenschaft der letzten Schrift hat etwas Er-
schreckendes: ich habe sie vorgestern mit tiefem Erstaunen und wie etwas
Neues gelesen", um gleichzeitig zu konstatieren, dass sich seine „bisherige
Existenz als das herausgestellt" habe, „was sie ist — ein bloßes Verspre-
chen" (KSB 8/KGB III 5, Nr. 964, S. 213, Z. 76-80).
Viele Selbstzeugnisse in N.s letztem Schaffensjahr 1888 schwanken zwi-
schen der Versicherung, das Größtmögliche für die Menschheit bereits geleistet
zu haben, und dem mehr oder weniger bangen Eingeständnis, doch bisher
ganz im Präliminarischen des großen philosophischen Entwurfes geblieben zu
sein. Dabei konnte ihm sein jüngstes Werk auch als Gradmesser der eigenen
psychisch-pathologischen Befindlichkeit dienen, so gegenüber Köselitz am
01. 02. 1888: „Bei mir ist ein Zustand von chronischer Verwundbarkeit
eingetreten, an dem ich in guten Zuständen eine Art Revanche nehme, die
auch nicht vom Schönsten ist, nämlich als ein Exceß von Härte. Zeugniß mei-
ne letzte Schrift", also GM (KSB 8/KGB III 5, Nr. 983, S. 239, Z. 20-23). Während
gegenüber dem Getreuen das Werk als Instrument zur Selbstdiagnose herhal-
ten musste, blieb davon in Verlautbarungen gegenüber den Repräsentanten
der literarischen Öffentlichkeit nur das Stichwort der „Leidenschaft" übrig, das
N. schon am 20. 12. 1887 Köselitz gegenüber in Anschlag gebracht hatte. Den
Redakteur der Berner Tageszeitung Der Bund, Josef Viktor Widmann, ließ N.
am 04. 02. 1888 angesichts einer ausführlichen Würdigung, die Carl Spitteler
im Bund vom Neujahrstag 1888 platziert hatte (Friedrich Nietzsche aus seinen
Werken, wieder abgedruckt in KGB III 7/3, 2, S. 961-972) wissen, er habe mit
dem von Spitteler gar nicht berücksichtigten JGB „die Absicht, das Schwer-
gewicht" verlegt: „Dies habe ich nochmals in der letzten ,Streitschrift' ge-
than, wo ein Allegro feroce und die Leidenschaft nue, crue, verte an Stelle der
raffinirten Neutralität und zögernden Vorwärtsbewegung vom ,Jenseits' getre-
ten ist. Es ist möglich, daß Herr Nietzsche mehr Artist ist, als Herr Spitteler es
uns glauben machen möchte..." (KSB 8/KGB III 5, Nr. 985, S. 245, Z. 32-38. Die
Wendung „nue, crue, verte" variiert Galiani 1882, 1, 370, siehe Vivarelli 2003,
197 u. Campioni 2009, 132. Fn. 140.) Wenige Tage später wandte sich N. an
Spitteler selbst und sprach, Spittelers Rezensionsstil nachäffend, vom Adressa-
ten in der dritten Person (Spitteler notierte auf dem Autograph des Briefes: „An
wen geschrieben? An mich!" KGB III 7/3,1, S. 258). N. gab seinem Missfallen
deutlich Ausdruck: Nicht nur sei Spitteler über das inhaltlich Relevante in N.s
Gesamtwerk großzügig hinweggegangen, vielmehr vermöge er nicht einmal die
ihn vornehmlich interessierenden, stilistischen Aspekte adäquat zu fassen. Auf
GM bezieht sich N. wie so oft nur mit dem Untertitel „Streitschrift": „Zuletzt
findet Herr Spitteler gar vom Stile meiner Streitschrift, er sei das Gegentheil
eines guten; ich würfe Alles auf's Papier, wie es mir gerade durch den Kopf
 
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