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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0033
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14 Zur Genealogie der Moral

handen war: aber ich muß damals in einem Zustande von fast ununterbroche-
ner Inspiration gewesen sein, daß diese Schrift wie die natürlichste Sache von
der Welt dahinläuft. Man merkt ihr keine Mühsal an — Der Stil ist vehement
und aufregend, dabei voller finesses; und biegsam und farbenreich, wie ich
eigentlich bis dahin keine Prosa geschrieben." (KSB 8/KGB III 5, Nr. 1094,
S. 396 f., Z. 12-25) Im Gedächtnis geblieben war N. hingegen das Zeitungsurteil
vom Neujahrstag 1888: „Freilich sagt der große Kritiker Spitteler: daß er, seit-
dem er diese Schrift von mir gelesen habe, alle Hoffnungen auf mich als
Schriftsteller aufgegeben habe..." (Ebd., Z. 25-27)
Interessant ist im Fortgang des Briefes an Meta von Salis auch, dass N.
die Schaffenskraft des vergangenen Sommers, aus der in kürzester Zeit GM
hervorgegangen war, mit derjenigen des aktuellen Sommers 1888 vergleicht,
der „geradezu ,ins Wasser gefallen'" (ebd., Z. 30) sei. Diesen Befund vom
22. 08. 1888 revoziert das Schreiben an dieselbe Adressatin vom 07. 09. 1888,
das die Rücksendung des GM-Exemplares an die Besitzerin begleitete: „Inzwi-
schen war ich sehr fleißig, — bis zu dem Grade, daß ich Grund habe, den Seuf-
zer meines letzten Briefs über den ,ins Wasser gefallenen Sommer' zu widerru-
fen. Es ist mir sogar etwas mehr gelungen, Etwas, das ich mir nicht zugetraut
hatte..." (KSB 8/KGB III 5, Nr. 1102, S. 410, Z. 7-11) In diesen zwei Wochen hatte
jenes Werk wesentlich Gestalt angenommen, das N. zwei Monate später für die
vollendete Umwerthung aller Werthe halten und das im September bloß das
erste Buch des neuen Werks bilden sollte: Der Antichrist (AC). AC konkretisiert
viele Aspekte der Religions- und insbesondere der Judentums- und Christen-
tumsgeschichte, die in GM erst angedeutet werden. Es liegt nahe, in der Re-
Lektüre von GM einen unmittelbaren Anstoß für die Konfektionierung von AC
zu sehen. Zugleich verwarf N. die alten Pläne eines Werks unter dem Titel Der
Wille zur Macht endgültig und ersetzte es durch die Umwerthung aller Werthe.
Diese Formel konnte er wiederum GM entnehmen, wo sie freilich noch negativ
auf die sklavische Moralumprägung durch Juden- und Christentum gemünzt
war (GM I 8, KSA 5, 269, 19).
In seiner autogenealogischen Durchsicht der eigenen Werke, die das Herz-
stück von Ecce homo (EH) bilden, behandelt N. im Herbst 1888 GM auf so knap-
pem Raum wie sonst nur FW (ausführlich zu EH GM: NK 6/2, S. 577-581; Tonge-
ren 2012b zeigt, dass das in der EH-Retrospektive gezeichnete Bild von GM vom
tatsächlichen GM-Text abweicht). Wie im Brief an Widmann vom 04. 02. 1888
wird der Stil des Werks als wild, „feroce" gekennzeichnet (das italienische
Adjektiv benutzte N. nur an diesen beiden Stellen); zugleich wird Auskunft
gegeben über die angeblich analoge Dramaturgie der drei Abhandlungen:
„Jedes Mal ein Anfang, der irre führen soll, kühl, wissenschaftlich, ironisch
selbst, absichtlich Vordergrund, absichtlich hinhaltend. Allmählich mehr Un-
 
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