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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0038
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Überblickskommentar 19

teilweise in anderen Schriften nachgereicht: Über die „Geschichte der Moral-
Entnatürlichung" äußerte sich N. beispielsweise im Anschluss an Julius Well-
hausen anhand Alt-Israels in AC (siehe NK 6/2, S. 131-136 u. ö.).
Nachdem sich Franz Overbeck in seinem Brief vom 02. 01. 1888 nicht ganz
so enthusiastisch im Blick auf die erste Abhandlung hatte vernehmen lassen
(KGB III 6, Nr. 510, S. 140 f.), räumte N. in seiner Antwort vom 04. 01. 1888 ein:
„Nur ein Wort hinsichtlich des Buchs: es war der Deutlichkeit wegen geboten,
die verschiedenen Entstehungsheerde jenes complexen Gebildes, das Moral
heißt, künstlich zu isoliren. Jede dieser 3 Abhandlungen bringt ein einzelnes
primum mobile zum Ausdruck; es fehlt ein viertes, fünftes und sogar das we-
sentlichste (,der Heerdeninstinkt') — dasselbe mußte einstweilen, als zu um-
fänglich, bei Seite gelassen werden, wie auch die schließliche Zusammenrech-
nung aller verschiedenen Elemente und damit eine Art Abrechnung mit
der Moral. Dafür sind wir eben noch im ,Vorspiele' meiner Philosophie. (Zur
Genesis des Christenthums bringt jede Abhandl. einen Beitrag; nichts liegt mir
ferner, als dasselbe mit Hülfe einer einzigen psychologischen Kategorie erklä-
ren zu wollen) Doch wozu schreibe ich das? Dergleichen versteht sich eigent-
lich zwischen Dir und mir von selbst." (KSB 8/KGB III 5, Nr. 971, S. 224, Z. 3-
17) Eine derartige Relativierung des eigenen Buches, die so anders klingt als
die markigen Parolen, mit denen N. ansonsten gegenüber Dritten seine Produk-
te zu rühmen pflegte, zeugt von einer Rückzugsstrategie, die N. angesichts ei-
ner Kritik einschlug, deren Berechtigung er ebenso wenig abstreiten konnte
wie das grundsätzliche Wohlwollen des Kritikers. Für diese Strategie ist es ty-
pisch, dass sie das Wesentliche in die Zukunft vertagt, das Geleistete als „Vor-
spiel" bagatellisiert und die eigentliche „Abrechnung mit der Moral" als
noch ausstehend ankündigt.
Diesen verhältnismäßig bescheidenen Geltungsanspruch vorausgesetzt,
wäre es bereits hinreichend, wenn die Publikation dem „Hinterfragen"
dient - um ein Wort zu gebrauchen, das N. mit M 523, KSA 3, 301, 16 zwar in
die Philosophie einführte, sonst aber nirgends benutzte. Tatsächlich ist GM ein
exemplarisch hinterfragendes Buch und gehört als solches zu den verstörends-
ten Werken der Weltliteratur. Obwohl GM im Unterschied zu N.s vorangegange-
nen Schriften und insbesondere im Unterschied zu JGB, auf das GM doch ge-
mäß den Verlautbarungen des Autors unmittelbar bezogen sein soll, sich stark
an die klassische Form der philosophischen Abhandlung anlehnt - die N. nur
in seiner lange zurückliegenden Basler Zeit mit der Geburt der Trägödie (GT)
und den Unzeitgemässen Betrachtungen (UB) erprobt, seither aber nicht mehr
geübt hatte - unterläuft GM die damals und noch heute üblichen Erwartungen
an ein philosophisches Buch. GM bricht den Abhandlungscharakter immer
wieder auf, torpediert ein stabiles Autoren-Ich, argumentiert nicht linear, wie
 
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