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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0040
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Überblickskommentar 21

hinab: Die in der Gegenwart herrschende Moral sei das Produkt einer sklavi-
schen Umwertung. Die ursprüngliche aristokratische Wertordnung sei von den
Schwachen und Zu-Kurz-Gekommenen überwältigt und umgekehrt worden;
deren Ressentiment gegen die ursprünglichen Herren habe eine neue Moral
hervorgebracht, die noch immer herrsche.
Die Zweite Abhandlung vertieft diese These, indem sie sich um den Nach-
weis bemüht, das Gewissen als scheinbar untrügliche moralische Beurteilungs-
instanz sei nichts natürlich Gegebenes, sondern vielmehr der historisch spezifi-
sche Ausdruck eines Instinkts der Grausamkeit - eines Instinkts, der sich nicht
mehr wie einst beim vergesslichen Tier-Menschen ganz ungehindert nach au-
ßen entladen konnte. Am Anfang des moralischen Bewusstseins steht dem-
nach nicht die Überlegung, Leid zu vermeiden, sondern die Lust, anderen Leid
zuzufügen - um ihnen ein Gedächtnis zu geben, sie nämlich zu rückzahlungs-
bereiten Schuldnern zu machen. Mit der Herausbildung komplexerer sozialer
Gefüge habe eine Entmachtung der Individuen stattgefunden; durch Zwangs-
maßnahmen sei die ursprüngliche Lust, fremdes Leid zu verursachen, unter-
bunden worden. Der Instinkt zur Grausamkeit wurde somit zum Richtungs-
wechsel gezwungen. Er wandte sich nach innen, gegen das ehedem unbändig
und rücksichtslos agierende Individuum. Der Mensch, der zuvor seine Lust da-
raus bezog, anderen Leid zu verursachen, begann nunmehr an sich selbst zu
leiden. Dieses Leiden an der eigenen Grausamkeit ist GM II zufolge das
schlechte Gewissen - es regt sich angesichts der eigenen Lust am Leben, ange-
sichts des Drangs, Macht über andere auszuüben. Mit der Implementierung
dieses schlechten Gewissens seien äußere Sanktionen überflüssig geworden;
der Staat müsse die Individuen nicht länger in Schach halten - das erledigten
sie, durch ihr Gewissen zur Ohnmacht verurteilt, von allein.
Die ersten beiden Abhandlungen lehnen sich damit thematisch eng an das
Buch Der Ursprung der moralischen Empfindungen von Paul Ree aus dem Jahr
1877 an, um jeweils in der Sache pointierte Gegenthesen zum Standpunkt von
N.s ehemaligem Freund zu formulieren: „Rees § 1, überschrieben ,Der Ur-
sprung der Begriffe gut und böse', entspricht thematisch Nietzsches I. Abhand-
lung, Rees § 2, überschrieben ,Der Ursprung des Gewissens', Nietzsches II. Ab-
handlung. Das Thema von Rees § 3, ,Die Verantwortlichkeit und Willensfrei-
heit', integriert Nietzsche dann in seine I., das Thema des § 4 ,Der Ursprung der
Strafe und des Gerechtigkeitsgefühls' in seine II. Abhandlung. Erst zur später
hinzugefügten III. Abhandlung Nietzsches gibt es bei Ree kein thematisches
Pendant" (Stegmaier 1994, 69).
Diese längste, dritte Abhandlung stellt zwar pluralisch die „asketischen
Ideale" ins Zentrum, beschreibt dann aber vor allem singularisch, wie das eine
asketische Ideal es vermocht habe, die Menschen unter sein Joch zu zwingen.
 
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