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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0042
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Überblickskommentar 23

5 Inhaltsübersicht
Vergleicht man die Vorrede von GM mit der Vorrede von JGB und denjenigen
der früheren, von N. 1886/87 wiederaufgelegten Schriften, fällt auf, dass sie in
die Thematik des Buches selbst, hier in die historische Perspektivierung der
Moral(en) bereits mitten hineinführt, indem sie zeigt, wie das sprechende „Ich"
selbst zur Frage nach der „Historie der Moral" (GM Vorrede 7, KSA 5, 254,
15) gekommen ist, wie es erste eigene Antworten gefunden hat, die wiederum
im Gegensatz stehen zu den bisherigen, landläufigen Antworten. Das „Ich"
entwirft also eine Genealogie seiner eigenen moralhistorischen Herangehens-
weise, indem es die Herkunft des Problems im Horizont des eigenen Lebens
ausmacht. Es führt sozusagen Genealogie performativ vor, nämlich an sich
selbst exemplifiziert, ohne jedoch dieses Verfahren zu erläutern oder theore-
tisch zu begründen. Wiederholt erzeugt die Rede von „Hypothesen" (GM Vorre-
de 4, KSA 5, 250, 17 u. 20 f. u. 251, 4; GM Vorrede 7, KSA 5, 254, 16 u. 24) zwar
den Anschein von Wissenschaftlichkeit; doch zugleich übt sich der Text in
Aussparungen oder Andeutungen und ist weit davon entfernt, ein klares wis-
senschaftliches Forschungsprogramm zu formulieren.
Die Erste Abhandlung von GM beschreibt, ebenso wie die beiden folgen-
den, tektonische Verschiebungen im Moralgefüge der Menschheit, insbesonde-
re der westlichen und nahöstlichen Welt. Zugleich verschiebt aber die Abhand-
lung selbst ihren Fokus - sie lebt wesentlich von Verschiebungen. Der erste
Abschnitt stellt die „englischen Psychologen" (KSA 5, 257, 4) vor, denen es
zunächst scheinbar darum geht, das Vertrauen des Menschen in sich selbst zu
untergraben, während sie dann in GM I 2 mit jenen Moralhistorikern identifi-
ziert werden, die den altruistischen Einsatz zugunsten des allgemein Nützli-
chen für das halten, was ursprünglich als gut gegolten habe. Wie aber, fragt
der dritte Abschnitt, hätte im Lauf der Geschichte vergessen werden können,
dass das Unegoistisch-Allgemeindienliche das ursprünglich Gute gewesen ist,
wie die Utilitaristen gerne glauben machen wollen? Wäre es das gewesen, hätte
es keinen Grund gegeben, es zu vergessen. Während das altruistische und utili-
taristische Deutungsmuster auf einen toten Punkt zuläuft, bietet GM I 4 einen
alternativen Beantwortungsansatz für die Frage, was denn in der menschheits-
geschichtlichen Frühzeit als gut gegolten habe. Der Weg, den das sich nun in
Szene setzende Ich wählt, ist derjenige der sprachgeschichtlichen Forschung,
der zufolge „gut" seinen Ausgang bei der Selbstbeschreibung der Vornehmen
nehme, während als „schlecht" die sozial Untergeordneten bezeichnet worden
seien. GM I 5 akzentuiert dieses Schema, wonach sich im Werturteil „gut" auch
das charakterliche und ethnische Selbstverständnis einer Herrschaftsschicht
manifestiere. In der Kombination von Etymologie und Frühgeschichtsspekula-
 
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