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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0046
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Überblickskommentar 27

den Übeltätern abgemildert, weil die Gemeinschaft stabil genug geworden sei,
auch Verletzungen auszuhalten, so dass man sich sogar eine Zukunftsgesell-
schaft vorstellen könne, in der das Strafen ganz überflüssig würde. Demgegen-
über will GM II 11 die Vorstellung ausräumen, Gerechtigkeit sei aus Rache und
Ressentiment entstanden. Gerade das Gegenteil sei der Fall: Die „aktiven Af-
fekte" (310, 19 f.) seien für die Entstehung von Gerechtigkeit zu würdigen, das
durch aktive Macht gesetzte Recht. Gegen alle Varianten des Naturrechts wird
behauptet, es gebe an sich weder Recht noch Unrecht. Rechtsetzung diene
letztlich nur Machterweiterungsinteressen.
GM II 12 wehrt sich gegen ein teleologisches Verständnis von Strafen, denn
deren spätere Zwecke hätten nichts mit ihrer Entstehung zu tun: Alles Gesche-
hen sei nur die Summe fortgesetzter Überwältigungsprozesse, in denen der
„Wille zur Macht" (316, 6) greifbar werde, den der Text als Gegenkonzept
zum Begriff der Anpassung präsentiert, die als „Aktivität zweiten Ranges"
nicht mit der „eigentlichen Aktivität" (315, 33 f.) verwechselt werden dürfe.
Der Mensch müsse sich an die Vorstellung gewöhnen, selbst nicht Zweck der
Evolution zu sein und dereinst von etwas Stärkerem abgelöst zu werden. Dau-
erhaft sei an der Strafe eher die Praxis, führt GM II 13 aus, nicht der Zweck
oder Sinn - und entwirft einen ganzen Katalog möglicher Strafzwecke. Na-
mentlich den vermeintlich wesentlichsten Strafzweck, nämlich ein Schuldge-
fühl zu wecken, bewirkt nach GM II 14 die für gewöhnlich erwartete Strafe
gerade nicht: Verurteilte Verbrecher würden sich nicht schuldig, sondern von
der Gesellschaft entfremdet fühlen. In einem Exkurs über Spinoza argumentiert
GM II 15, ein Gewissensbiss sei die Trauer über etwas Gewesenes, das sich
nicht wie erwartet ereignet habe. So hätten Übeltäter stets empfunden und sei-
en nicht von schlechtem Gewissen im moralischen Sinn heimgesucht worden.
Mit GM II 16 setzt der eigene Versuch des sprechenden „Ich" ein, die Her-
kunft des schlechten Gewissens zu erforschen. Es handle sich um eine seeli-
sche Krankheit, die zunächst durch einen Sozialisierungsschock angefacht
worden sei, dem die menschlichen Halbtiere unterlagen, als sie in eine rigide
staatliche Ordnung gezwungen wurden. Da sie dort ihre Triebenergie nicht
mehr nach außen wenden konnten, hätten sie sie nach innen gerichtet. Erst
an diesem Punkt sei ein menschliches Innenleben, eine „Seele" überhaupt ent-
standen. Diese Veränderungen seien, so GM II 17, plötzlich und unter dem
Druck einer „Eroberer- und Herren-Rasse" (324, 22) aufgetreten. Das schlechte
Gewissen stellt sich nach GM II 18 ursprünglich durchaus als umgeleitete „akti-
ve Kraft" (325, 29) dar, hätten doch offensichtlich alle Menschen einen „Ins-
tinkt der Freiheit" oder „Wille[n] zur Macht" (326, 2 f.).
In GM II 19 wird der obligationenrechtliche Faden wieder aufgenommen:
Man habe in der menschheitsgeschichtlichen Frühzeit die Beziehung zu den
 
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