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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0050
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Überblickskommentar 31

schnitt 16 ist es dann ausdrücklich die Kirche, die als Sammelbecken aller
Kranken fungiere und diese stillgestellt habe, ohne sie zu heilen - die Erzeu-
gung eines Sünderbewusstseins sei dazu das Mittel der Wahl gewesen.
GM III 17 bespricht exemplarische Fälle asketisch-selbstquälerischer Praktiken
sowie die Praktiken, deren sich Religionen bedient haben, um ihre Gläubigen
zu narkotisieren und zu hypnotisieren. Dabei scheinen die Ursachen physiolo-
gischen Missbefindens wesentlich in sozialen, demographischen und epidemi-
schen Umbruchereignissen zu liegen, was freilich den Verdacht der Sprecher-
instanz nicht mindert, die Starken seien wissentlich und willentlich krank ge-
macht worden. Gegen depressive Zustände helfen gemäß GM III 18 allerdings
auch stupide maschinelle Arbeitsverrichtungen, sodann gegenseitige Wohlta-
ten, was wiederum die Herdenbildung befördere. Demgegenüber beschreibt
der neunzehnte Abschnitt aufreizendere Priestermittel, die Kranken an sich zu
binden, nämlich Gefühlsausschweifungen zur Bekämpfung der allgemeinen
Unlust. Gerade die starken negativen Affekte seien es, so GM III 20, die die
Priester nutzten, jedoch nicht, um die Menschen gesünder, sondern um sie
kränker zu machen. Das Schuldgefühl erweise sich dabei für den priesterlichen
Machtanspruch als überaus nützlich, nämlich insofern man dem Leidenden
suggerieren könne, er sei selbst an seinem Leiden schuld, müsse es als Strafe
für sein Tun, seine „Sünde" verstehen. GM III 21 resümiert, zwar hätten die
Priester durch Schwächung die Menschen gezähmt, die Herrschaft des asketi-
schen Ideals sei aber doch weltgeschichtlich fatal, was GM III 22 an Juden und
Christen und ihrer vorgeblichen pöbelhaften Unverschämtheit konkret belegen
will.
GM III 23 nimmt die allgemeine Frage nach der Bedeutung des asketischen
Ideals wieder auf, die GM III 28 schließlich global beantworten wird mit dem
„Willen zum Nichts" (412, llf.). Die Einrede, dass die Wissenschaft einen
Gegenpol zum asketischen Ideal verkörpere, wird von GM III 23 umgehend zu-
rückgewiesen: Wissenschaft habe gerade kein neues Ideal und erst recht kein
antiasketisches aufgestellt, wie das sprechende „Ich" mit einer Typologisie-
rung von Wissenschaftlern zu erhärten trachtet. Immerhin könnten, so mag es
scheinen, die von unerbittlicher Forscherleidenschaft Beseelten die geborenen
Feinde des asketischen Ideals sein - eine Vermutung, die GM III 24 Schritt für
Schritt desillusioniert, „denn sie glauben noch an die Wahrheit..."
(399, 11 f.). Gerade im wissenschaftlichen Restglauben an die Wahrheit und ih-
ren unbedingten Wert manifestiere sich das alte asketische Ideal. Die Wissen-
schaft, so GM III 25, schaffe niemals neue Werte, sondern bedürfe einer werte-
setzenden Anleitung. Entsprechend seien auch die „berühmten Siege" (403,
33) der Naturwissenschaften keineswegs dazu angetan, den Menschen und die
Welt aufzuwerten, sondern eher dazu, sie klein und nichtswürdig erscheinen
 
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