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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0052
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Überblickskommentar 33

scheinen die Bezüge doch etwas dünn. Niemeyer 2012, 82 argumentiert demge-
genüber allgemeiner, GM nehme Themen von JGB wieder auf, und zwar „histo-
risch kontextualisiert" (was er am Sklavenaufstand in der Moral herausstellt).
Tatsächlich bleibt JGB häufig ziemlich unbestimmt, wenn es um Vergangenes
geht. GM hingegen scheint in den drei Abhandlungen drei zusammenhängen-
de historische Narrative zu entfalten und damit geschichtlich zu konkretisie-
ren, was in JGB vage und wolkig geblieben war. Allerdings wird im Einzelstel-
lenkommentar häufig genug darauf hinzuweisen sein, dass die scheinbaren
historischen Konkretionen sich ebenfalls nur schwer im Raum der Vergangen-
heit verorten lassen.
Schlägt man allerdings den Bogen von JGB über GM zu AC, dann ist das
Bemühen erkennbar, historisch immer stärker ins Detail zu gehen - der Wille
zu einer historischen Konkretisierung, die Schritt hält mit der Steigerung der
welthistorischen Rolle, die sich N.s sprechendes „Ich" nach und nach zu-
schreibt, bis es dann im Spätjahr 1888 vom Umwerter aller Werte schließlich
zur Göttlichkeit aufzusteigen wähnt. Viel für sich hat die von Schacht 2013,
342 vorgebrachte Überlegung, dass trotz zunehmender historischer Konkretion
diese ,genealogische' Art der Geschichtsschreibung nicht darauf aspirierte, ge-
schichtliche Wahrheit im Sinn der damaligen objektivistischen Geschichts-
schreibung zu etablieren, sondern dass es sich eher um eine Art von fiktionalis-
tischer Geschichtsschreibung handle, die steile Thesen in den Raum stelle, um
mit den bisherigen Überzeugungen der Leser lustvoll zu experimentieren. Man
wird hinzufügen, dass es - wie in allen Schriften N.s - überdies durchaus frag-
lich ist, ob das „Ich" (oder das „Wir"), das in GM oft genug herrisch das Wort
führt, mit dem historischen Subjekt Friedrich N. umstandslos kurzgeschlossen
werden darf - und ob dieses „Ich" tatsächlich die persönlichen Überzeugun-
gen von Herrn N. wiedergibt. Wenn es sich allerdings um ein fingiertes „Ich"
handelt, ein „Ich", das ein Anderes, eine Rolle sein kann, also um eine
Auto(r)fiktion (vgl. zu diesem Begriff Wagner-Egelhaaf 2013 im Anschluss an
Serge Doubrovsky), fragt sich, wie der Leser zu dem vordringen kann, was man
als „N.s Philosophie" zu bezeichnen pflegt (vgl. Sommer 2018c). Vielleicht, in-
dem man sich der Wirkung der Texte selbst einfach aussetzt: GM als Text pro-
voziert die moralschöpferische Kraft der Leser. Statt definitive Antworten zu
liefern, destabilisiert die Schrift die bisherigen Moralvorstellungen, ohne zu
verraten, was denn der Inhalt und die Tugenden einer künftigen Moral sein
sollen. „N.s Philosophie" besteht darin, die Leser - auch durch die Abwesen-
heit einer festgefügten Philosophie - zu zwingen, selbst mit dem Philosophie-
ren anzufangen.
In der Diskussion um N. trat die Beschäftigung mit GM in den Vordergrund,
als diese Diskussion sich zu verwissenschaftlichen begann. Dem Werk werden
 
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