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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0064
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II Stellenkommentar
Der Titel
245, 1 Zur Genealogie der Moral.] Vor GM findet sich in N.s veröffentlichten
Werken weder das Wort „Genealogie" noch eine adjektivische oder substantivi-
sche Ableitung davon. Die Verwendung entsprechender Worte im Nachlass ist
dürftig und bewegt sich ganz im Rahmen des konventionellen Wortgebrauchs
von Verwandtschafts- und Herkunftsbeziehungen (vgl. z. B. GMD 1, KSA 1, 515,
26; NL 1871/72, KSA 7, 14[27], 386, 3; NL 1884, KSA 11, 26[391], 253, 22); in
NL 1884, KSA 11, 26[432], 266, 6-10 spricht ein „Ich" über seine „philosophi-
sche Genealogie", die es mit „der antiteleologischen, d. h. spinozistischen Be-
wegung" sowie der „mechanistischen Bewegung" in Verbindung bringt. Es
sind mit Ausnahme von Titelblatt- und Gliederungsentwürfen (KGW IX 3, N
VII 3, 153-154 = NL 1886/87, KSA 12, 5[40], 198 u. KGW IX 3, N VII, 32 = NL 1886/
87, KSA 12, 5[74], 218) in N.s Nachlass keinerlei Vorarbeiten zu GM greifbar, die
die Genealogie als Verfahren im Umgang mit Moral reflektieren würden. In N.s
Gebrauch der Vokabel meint „Genealogie" offensichtlich auch weniger ein (wie
auch immer geartetes) Verfahren, sich mit der Herkunftsgeschichte der Moral
zu beschäftigen, sondern diese Herkunftsgeschichte selbst.
Im zeitgenössischen Sprachgebrauch galt als „Genealogie (griech., Ge-
schlechterkunde), im weitern Sinn die Ableitung eines Dinges von seinem Ur-
sprung, so daß von einer G. der Wörter, Sprachen, Systeme, Begriffe, Pflanzen,
Tiere etc. die Rede sein kann; im engern Sinn die Kenntnis des Ursprungs,
der Fortpflanzung und Verbreitung der Geschlechter (genera) sowohl in ihrer
unmittelbaren Aufeinanderfolge als in ihrem verwandtschaftlichen Zusammen-
hang." (Meyer 1885-1892, 7, 81) Einige Interpreten haben darauf hingewiesen,
dass Genealogie als Ergründung der Geschlechterfolge eben nicht auf einen
Ursprung zurückverweist, sondern dass eine Person zahllose Ahnen und damit
eine Pluralität von Herkünften hat, die sich im Dunkel der Vergangenheit ver-
lieren. Je weiter man in die Vergangenheit gehe, desto stärker müssten folglich
Mutmaßungen gesichertes Wissen ablösen (siehe z. B. Stegmaier 2004, 63 f.);
demgemäß spricht GM Vorrede 5 auch vom „Hypothesenwesen über den Ur-
sprung der Moral" (KSA 5, 251, 28 f.). In der Philologie des 19. Jahrhunderts,
namentlich bei Karl Lachmann und bei N.s Lehrer Friedrich Ritschl, wurde mit
dem Begriff der Genealogie operiert, um die Genese eines Textes zu beschrei-
ben, in den unterschiedliche Quellen, Vorstufen und Fassungen eingegangen
sind, die sich in Form eines Stammbaumes darstellen lassen, ohne deswegen
auf einen einzigen Ursprung, einen Urtext zurückgehen zu können oder zu
wollen. Stattdessen sollten die Abhängigkeiten und Verwandtschaftsbeziehun-

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