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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0066
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Stellenkommentar GM Titel, KSA 5, S. 245 47

Schütz 2005, 135 f.). Aber Overbeck macht doch nirgends den Begriff der Genea-
logie stark, obwohl sein eigenes historiographisches Konzept der Delegitimie-
rung des Geltenden durch Herkunftsforschung dem in GM praktizierten Verfah-
ren durchaus verwandt ist (vgl. Sommer 2003).
In den Werken, die sich aus N.s Buchbeständen erhalten haben, gehört
,Genealogie' nicht zum prominenten Vokabular. Manchmal wird der Ausdruck
auch ironisch gebraucht („Manche hohe Genealogie liefert eine Narrenliste; die
vollständigste aber enthält doch die große allgemeine Welthistorie." [Weber]
1868, 12, 109). In Eugene Fromentins Les maitres d'autrefois hat N. sich eine
Stelle über frühneuzeitliche flämische Künstler markiert, die sich ihre Inspirati-
on aus Italien geholt hatten: „II en est de tres-secondaires et que l'histoire
locale elle-meme pourrait oublier, si tous ne se suivaient pas de pere en fils,
et si la genealogie n'etait pas en pareil cas le seul moyen d'estimer l'utilite de
ceux qui cherchent et de comprendre la subite grandeur de ceux qui trouvent."
(Fromentin 1882, 24. Anstreichung N.s am Seitenrand, seine Unterstreichun-
gen. „Es gibt davon sehr zweitrangige, die selbst die Lokalgeschichte vergessen
könnte, wenn nicht alle von Vater zu Sohn aufeinander folgten und wenn die
Genealogie nicht in einem solchen Fall das einzige Mittel wäre, die Nützlichkeit
derjenigen abzuschätzen, die suchen und die plötzliche Größe derjenigen zu
verstehen, die finden.")
Abgesehen vom Titel kommt die Wendung „Genealogie der Moral" in GM
selbst nicht vor (Brusotti 2014b, 119, Fn. 7) und nur die zweite der beiden Stel-
len, die „Moral-Genealogie" bemühen, lässt sich so lesen, als ob die Sprecher-
instanz sich mit diesem Bemühen identifizieren könnte. Diese Stelle - ,,[d]ies
scheint mir in Betreff der Moral-Genealogie eine wesentliche Einsicht"
(GM I 4, KSA 5, 262, 4 f.) - ist auch aufschlussreich, weil sie die Doppeldeutig-
keit des Genealogie-Begriffs (analog zum Begriff der Geschichte als res gestae
und als historia rerum gestarum ) aufweist: Genealogie kann sowohl die Her-
kunftsverhältnisse selbst meinen als auch die wissenschaftliche Beschäftigung
mit diesen Herkunftsverhältnissen. Die erste „Moral-Genealogie"-Stelle polemi-
siert gegen die „Stümperei" derjenigen, die sie falsch anpackten (GM I 2, KSA 5,
258, 27). Die Ableitungen aus dem Wortfeld der Genealogie dienen oft der Kari-
kierung von Gegnern, etwa mit deren „perverse[r] Art von genealogischen Hy-
pothesen" (GM Vorrede 4, KSA 5, 250, 20 f.). „Moralgenealogen" haben sich
nach GM Vorrede 4 (KSA 5, 251, 16), GM II 4 (KSA 5, 297, 14 f. u. 22), GM II 12
(KSA 5, 313, 17) und GM II 13 (KSA 5, 316, 29 f.) unrühmlich hervorgetan oder
blamiert. Brusotti 2014b, 119, Fn. 7, bemerkt zu Recht, dass N. keineswegs nur
sich oder seinen historisierenden Umgang mit Moral als genealogisch qualifi-
ziere (vgl. Guay 2006, 355, demgegenüber Berkowitz 1995, 67-70, der wie ge-
meinhin üblich den Genealogie-Begriff für N. reserviert, sowie Solomon 2003,
 
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