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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0067
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48 Zur Genealogie der Moral

51, der Genealogie bei N. für „something of a protracted ad hominem argument
writ large" hält, während z. B. Merrick 2016, 228 wie selbstverständlich von N.s
eigener „genealogical methodology" spricht, ebenso wie Steizinger 2019). Die
Genealogie-Stellen in GM legen sogar eher das Gegenteil nahe, dass nämlich
entgegengesetzte Positionen als „genealogisch" bezeichnet werden (Ausnah-
me: NK 254, 17-22). Aber eine einheitliche Verwendung des Genealogie-Vokabu-
lars ist in GM offensichtlich nicht intendiert, ebenso wenig eine prinzipielle
Unterscheidung von „Genealogie" und „Historie". Immerhin nimmt die Spre-
cherinstanz in GM, wie Brusotti weiter beobachtet, „historische Methodik" für
sich selbst durchaus in Anspruch (z. B. GM II 12, KSA 5, 315, 19), während von
,genealogischer Methode' nirgends die Rede ist (N. nimmt eine solche Methode
entgegen der gängigen Suggestion z. B. bei Sax 1992, 399 u. Smith 1996 auch
nicht in Anspruch. Zur methodischen Selbstvergewisserung im Umgang mit
N.s Texten siehe hingegen Stern 2016). „,Genealogie' wird erst in der Rezeption
zu einer Bezeichnung von Nietzsches eigener Methode" (Brusotti 2014b, 119).
Dennoch wird (namentlich in der anglophonen Literatur) sehr oft der Anschein
erweckt, „Genealogie" sei bei N. die Bezeichnung seines eigenen Verfahrens,
so bei Kail 2011, 215: „Nietzsche's genealogy has the normative consequence of
destabilizing the moral beliefs it explains". Angier 2014 stellt dar, dass in der
Analytischen Philosophie der in N.s Texten begegnende Versuch, Werte durch
den Aufweis ihrer Herkunftsgeschichte ,genealogisch' zu delegitimieren, fast
durchweg als klassischer Fall einer „genetic fallacy", eines genetischen Fehl-
schlusses angesehen werde - eine Sicht, die Angier zu modifizieren trachtet,
freilich nicht mit dem naheliegenden Argument gegen den Fehlschlussver-
dacht: Will man Genesis und Geltung strikt getrennt halten, suggeriert man,
dass es innerhalb einer kontingenten Welt des Werdens einen Bereich gibt,
der von Kontingenz und Werden ausgenommen ist, nämlich den Bereich der
Geltung. Wie aber will ein selbst kontingentes Wesen wissen können, ob die
Kriterien, die es für unbedingte, universelle Geltung geltend macht, nicht
selbst bloß kontingent sind? (Vgl. auch Loeb 1995. Prescott-Couch 2015a, 103-
105 argumentiert, GM behandle „morality as an historical individual", wodurch
N. das Problem von Genesis und Geltung umgehen könne. Zur gezielten Vermi-
schung von Fakten und Fiktionen in GM Prescott-Couch 2015b).
Genealogie als Wissen um die Geschlechterfolge, als Familien- und Ge-
schlechterkunde diente wesentlich dazu, einen Status quo - beispielsweise
den Herrschaftsanspruch eines Adligen - unter Rückgriff auf die Vergangen-
heit, eine vornehme Abkunft zu rechtfertigen (in der Vormoderne wurde „die
gesellschaftliche Konstitution über weite Strecken über Genealogie geleistet" -
Heck 2004, 156; vgl. auch Kants Wortverwendung in der Vorrede zur ersten
Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, die Blondel 1994, 307 im Horizont von
 
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