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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0068
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Stellenkommentar GM Titel, KSA 5, S. 245 49

GM erörtert). Dieser Suggestion des Genealogie-Begriffes erliegend, behauptet
Habermas 1985, 152: „Bei Nietzsche schlägt nämlich die total gewordene Ideo-
logiekritik um in das, was er ,genealogische Kritik' nennt. [...] Das Ursprüngli-
chere gilt als das Ehrwürdigere, Vornehmere, Unverdorbenere, Reinere; kurz:
es gilt als das Bessere. Abstammung und Herkunft dienen als Kriterium des
Ranges gleichzeitig im sozialen wie im logischen Sinne. In diesem Sinne stützt
Nietzsche seine Kritik der Moral auf Genealogie." Shapiro 2006, 234 stellt zu
Recht fest, dass dies zwar das genealogische Werteschema des Gothaischen
Genealogischen Kalenders gewesen sein möge, aber mit N.s GM wenig zu tun
habe. Festzuhalten ist demgegenüber, dass das in GM angewandte Verfahren
dem Status quo der Moral gerade die Rechtfertigung unter Rückgriff auf ganz
und gar nicht vornehme Abstammungen entzieht. Marquard 1974, 268 unter-
scheidet dementsprechend zwischen „kompromittierender" und „legitimieren-
der Genealogie", während Geuss 1999, 1-5 deutlich macht, dass Genealogie bei
N. ein genaues Gegenstück zu den legitimierenden antiken Göttergenealogien
darstelle. Der Legitimation durch Vergangenheit steht in GM die Delegitimation
durch Vergangenheit gegenüber - GM vernichtet Sinnansprüche, die sich aus
der Geschichte herleiten. Im Kontext eines vorherrschenden, legitimatorischen
Genealogie-Verständnisses entbehrt der delegitimatorische Gebrauch, den
schon der Titel von GM davon macht, nicht der Ironie, hintertreibt dieser Ge-
brauch doch die Erwartungen unbedarfter Leser, die eine Rechtfertigung der
Moral erwartet haben könnten (zu GM als Werk, das systematisch Wahrhaftig-
keitsansprüche und eine verlässliche Erzähleristanz ironisch hintertreibe Guay
2011, ferner Millgram 2007 u. Pecora 1991, 112): Im Unterschied zum neutrale-
ren, von N. im Titel von UB II HL schon gebrauchten Wort „Historie" beschwört
„Genealogie" Legitimations- und Herrschaftsfragen fast zwangsläufig herauf.
(Entsprechend argumentiert Emden 2010a, 229, N.s Begriff der Genealogie habe
eine philosophische und eine politische Seite. Heute liegt der legitimatorische
Gebrauch wieder im Trend, etwa, wenn Hans Joas seine „neue Genealogie der
Menschenrechte" ausdrücklich als „affirmativ" versteht, vgl. Joas 2011, 147 und
zur Kritik, allerdings ohne Bezug auf N., Dreier 2018, 162.) Sowohl im legitima-
torischen als auch im delegitimatorischen Modus ist „Genealogie" als Verfah-
ren weder unparteiisch noch objektiv, obwohl das Wort den Anschein der Wis-
senschaftlichkeit erweckt: Eine Genealogie ist interessengeleitet, was GM auch
explizit an den angeblich stümperhaft-naiven „Moralgenealogen" exemplifi-
ziert, die bislang das Meinungsbild bestimmt haben sollen. (Bemerkenswert ist
übrigens, dass sich N. genau in den Wochen der Niederschrift von GM mit
familiengeschichtlichen Fragen beschäftigt hat, nämlich auf eine Anfrage aus
Weimar hin mit der möglichen Beziehung seiner Großmutter zu Goethe. Im
Entwurf eines Briefes an den Weimarer Archivar Carl August Hugo Burkhardt
 
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