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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0074
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Stellenkommentar GM Vorrede 1, KSA 5, S. 247 55

stellt, dass in einer „vormoralische[n] Periode der Menschheit" „der Impe-
rativ ,erkenne dich selbst!' [...] noch unbekannt" gewesen sei (KSA 5, 50, 17-
19). Dann wäre also das Trachten nach Selbsterkenntnis eine kulturelle Spät-
entwicklung (vgl. NK KSA 5, 50, 17-31) und der eingangs von GM Vorrede 1
erhobene Befund, dass „wir Erkennenden" nicht nach Selbsterkenntnis stre-
ben, könnte als Ausweis dafür gelten, dass diese Erkennenden die moralische
Phase der Menschheitsentwicklung bereits hinter sich gelassen haben. Der seit
Sokrates in der Philosophie gerne bemühten Losung des Orakels von Delphi:
„Erkenne dich (selbst)" (FvwOi oeauTov) haben viele Schriften N.s die Zustim-
mung aufgekündigt (vgl. NK KSA 5, 88, 5-9; NK KSA 1, 40, 6-10 u. NK KSA 6,
293, 29-32). Wenn das „Wir" nun die Suche nach sich selbst verweigert (aber
damit nicht unbedingt die Selbstbeobachtung, vgl. FW 335, KSA 3, 560, 16-
21), distanziert es sich einerseits von einem Hauptstrang der abendländischen
philosophischen Tradition, die der Selbst- vor der Sacherkenntnis Priorität ein-
räumt. Die Absage betrifft andererseits auch die christliche Tradition mit ihrem
Trachten nach Gewissens- und Selbsterforschung um des Heiles willen. Der
Satz „Wir haben nie nach uns gesucht" hat einen Vorläufer in Za I Von der
schenkenden Tugend 3, wo ihm allerdings eine andere Bedeutung zukommt,
da Zarathustra den Jüngern gerade die Fixierung auf die äußere Autorität und
die Vernachlässigung der Suche nach sich selbst vorhält: „Ihr hattet euch noch
nicht gesucht: da fandet ihr mich." (KSA 4, 101, 26) Beide Wendungen lassen
sich als Echo von Matthäus 7, 7 lesen: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet,
so werdet ihr finden" (Die Bibel: Neues Testament 1818, 9). Vgl. zur Interpreta-
tion von 247, 3-5 auch Conway 2001; Mulhall 2011, 234-239; Groves 2007/08,
95 und Körnig 1999, 96 f., der argumentiert, hier werde der spezifische blinde
Fleck des neuzeitlichen Erkenntnissubjektes kritisch thematisiert, sowie Stin-
gelin 2001, 173, der im Blick auf 247, 3-5 zu GM festhält, diese Schrift lasse
„sich als ethnologisches Projekt der doppelten Selbstverfremdung im Spiegel
der eigenen Vorgeschichte" lesen.
247, 6 f. „wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz"] Matthäus 6, 21: „Denn wo
euer Schatz ist, da ist auch euer Herz" (Die Bibel: Neues Testament 1818, 9).
Siehe zur Interpretation Pippin 2001, 86 und Acampora 2006b, 2 f.
247, 7 f. Bienenkörbe unsrer Erkenntniss] Die Bienenmetaphorik in GM Vorre-
de 1 (vgl. NK 247, 9) hat Interpreten zu unterschiedlichen Deutungsanstrengun-
gen veranlasst. Kofman 1993, 62 argumentiert, N. wolle mit ihrer Hilfe die Op-
position zwischen dem Spekulativen und dem Praktischen tilgen und die Le-
bensbedeutung von Erkenntnis herausstellen, während Georgsson 2005 sich
dafür ausspricht, diese Metapher sei das Mittel, die Aufmerksamkeit der Leser
darauf zu lenken, was in ihnen selber vorgehe, wenn sie N. lesen. Bei der Deu-
 
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