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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0075
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56 Zur Genealogie der Moral

tung der Metapher sollte man freilich ihre Traditionsprägung nicht außer Acht
lassen: In der christlichen Überlieferung im Anschluss an Sprüche 6, 8 (nur in
der Septuaginta) und Jesus Sirach 11, 3 gilt die Kirche als Bienenstock (Nach-
weise bei Sommer 1997b, 85 f.), während für das neuzeitliche Wissenschafts-
selbstverständnis die Allegorie in Francis Bacons Novum Organon I 95 prägend
geworden ist. Dort erscheinen die Empiriker als Ameisen, die Dogmatiker als
Spinnen, während die Bienen die Vor- und Nachteile beider Gruppen vereinen.
Die Exposition von GM Vorrede bewegt sich also in einer den zeitgenössischen
Lesern sehr geläufigen Metaphernwelt. Die Pointe besteht darin, das traditio-
nell entweder der Kirche oder der etablierten Wissenschaft vorbehaltene Ergeb-
nis des Bienenfleißes, nämlich den Honig, exklusiv dem sprechenden „Wir"
zuzuschreiben. Der Honig wird geraubt, die Metapher gekapert.
247, 9 geborne Flügelthiere und Honigsammler des Geistes) „Flügelthiere" gibt
es in N.s Schriften nur hier sowie in GM III 10, wo deutlich wird, dass man sich
darunter - als „Geist" in Anführungszeichen gesetzt - nicht einen Vogel (vgl.
Grimm 1854-1971, 3, 1845) oder einen Pegasus (Schiller 1859, 1, 316), sondern
ein Insekt vorstellen muss, da es sich aus einer „Raupe" entwickelt hat (vgl.
KSA 5, 360, 15-24). Es dient dort der allegorischen Umschreibung des Philoso-
phen, der sich von der asketischen Verpuppung gelöst hat (vgl. KSA 5, 361, 4-
11).
MA I 292 legt dem dort angesprochenen „Du" nahe, „dass kein Honig süs-
ser" sei „als der der Erkenntniss" (KSA 2, 237, 3 f.), während Zarathustra vor
seinem „Untergang" meint, er sei seiner „Weisheit überdrüssig, wie die Biene,
die des Honigs zu viel gesammelt hat" (Za Vorrede 1, KSA 4, 11, 16 f.). Im vierten
Teil von Za wird der Honig dann zu einem Leitmotiv (vgl. Za IV Das Honig-
Opfer, KSA 4, 295-299 u. ö.), wobei das antike Motiv des Honigopfers eine eher
spielerische Verwendung findet, denn Zarathustra opfert den Honig nicht ritu-
ell, sondern verwendet ihn als Köder, um die höheren Menschen an sich zu
ziehen - und das mit Erfolg: „in meiner eignen Höhle sitzt er, der höhere
Mensch! Aber was wundere ich mich! Habe ich ihn nicht selber zu mir gelockt
durch Honig-Opfer" (KSA 4, 347, 12-14), kann er in Za IV Die Begrüssung fest-
stellen. Das Gedicht Aus hohen Bergen, das JGB abschließt und damit GM Vorre-
de in N.s Publikationsabfolge unmittelbar vorausgeht, lässt schließlich das ly-
rische Ich bange fragen: „Und meinen Honig — wer hat ihn geschmeckt?."
(KSA 5, 241, 17).
247, ll f. Was das Leben sonst, die sogenannten „Erlebnisse" angeht, — wer von
uns hat dafür auch nur Ernst genug?] Diese scheinbare antiempiristische Wen-
dung, die der eigenen Außenwelterfahrung wenig Kredit einzuräumen scheint
(um umso mehr Erkenntnis aus der Introspektion zu Tage zu fördern?), hat
 
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