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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0077
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58 Zur Genealogie der Moral

„wir Erkennenden" (247, 3) Apostrophierten hätten einfach noch nicht die Zeit
gefunden, sich mit sich selbst zu beschäftigen, weil sie so viel zu erkennen
und zu geben hatten. Am Ende des Absatzes hingegen wird dieser Befund zu
einer Notwendigkeit umgedeutet: Selbsterkenntnis findet beim sprechenden
„Wir" nicht nur nicht statt, sondern ist prinzipiell unmöglich - ohne dass aller-
dings für diesen Übergang vom empirischen Sein zum apriorischen Müssen
Gründe oder Argumente beigebracht würden: Der „Grund" von 247, 4 f., näm-
lich, dass „wir" eben „nie nach uns gesucht" hätten, kann ja nicht bedingungs-
los gelten, denn daraus folgt nicht, dass sie nicht eines Tages beschließen,
doch nach sich zu suchen. Und wenn das dann sprechende „Ich" von GM Vor-
rede 2 an rekapituliert, wie sich im Laufe seines Lebens seine Einschätzung
der „Herkunft unserer moralischen Vorurtheile" (248, 5 f.) entwickelt und
verändert hat, kann das ja durchaus als Beitrag zur Selbsterkenntnis dieses
„Ich" erscheinen. Bloß erfolgt diese Selbsterkenntnis nicht apriorisch, nicht
in Form einer ursprünglichen Einsicht, wie sie sich gerade die neuzeitlichen
Bewusstseinsphilosophen seit Rene Descartes ausgemalt haben mögen, son-
dern genealogisch: Dieses „Ich" ist ein historisches, ein historisch-kontingen-
tes und kein transzendentales Subjekt (vgl. Pieper 2004, 16), das sich über sich
selbst aufklärt, indem es seine Geschichte rekonstruiert.
Wenn demgegenüber das „Wir" von GM Vorrede 1 die Möglichkeit der
Selbsterkenntnis prinzipiell negiert, könnte das in einer ersten, zurückhalten-
deren Lesart auch einfach nur bedeuten, dass ihm eine apriorische Selbster-
kenntnis unmöglich ist, weil es sich selbst als ein wandelbares, werdendes
Wesen versteht und sich als solches nicht als festes, stets mit sich selbst identi-
sches Seiendes zu begreifen vermag.
Eine zweite, quasi produktionsästhetische Lesart wird darauf abheben,
dass die Selbstvergessenheit immer schon ein Charakteristikum der Schaffen-
den war: Wer sich im Rausch der Kreativität, auch einer Kreativität der Er-
kenntnis befindet, hat keine Zeit mit Selbstbespiegelung zu vergeuden. Diese
Lesart kann auf N.s rezente Neulektüre von Ralph Waldo Emersons Versuchen
verweisen, genauer: auf eine Stelle, die NL 1883, KSA 10, 15[27], 486, 10 aus-
drücklich nennt: „das Selbst vergessen. Emerson p. 237". Sie lautet: „Das Eine,
was wir mit unersättlichem Verlangen erstreben, ist, daß wir uns selbst verges-
sen, über uns selbst erstaunt sind, unser ewiges Gedächtniß loswerden und
etwas thun ohne recht zu wissen wie oder warum; kurz, daß wir einen neuen
Kreis ziehen. Nichts Großes wäre jemals ohne Enthusiasmus vollbracht wer-
den. Der Weg des Lebens ist wundervoll. Er ist es durch ein völliges Dahinge-
ben" (Emerson 1858, 237. N.s Unterstreichungen, mehrfache Anstreichungen
am Rand. Zur Interpretation Thomä 2007, 328-330).
Eine dritte, forschere Lesart, die den prominenten Platz dieser Selbster-
kenntnisverneinung zu Beginn des gesamten Werks betont, wäre geneigt, den
 
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