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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0078
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Stellenkommentar GM Vorrede 1, KSA 5, S. 247 59

ersten Abschnitt als skeptische Einklammerung von GM im Ganzen zu begrei-
fen: Wenn Selbsterkenntnis für die „Erkennenden" nicht möglich ist, wie soll
man dann dem von ihnen angeblich Erkannten Glauben schenken? Weshalb
verzichtet das „Wir" auf den Versuch, Selbsterkenntnis durch Selbstgenealogi-
sierung herbeizuführen, was zwar nicht zu einer stabilen und endgültigen,
aber doch einer dynamischen und vorläufigen Selbsterkenntnis führen könnte?
Gemes 2006 hält dafür, dass wir es bei 247, 24-248, 1 mit der zentralen Aussage
von GM überhaupt zu tun hätten, während der scheinbare Zweck dieses Werks,
Moralherkünfte zu identifizieren, nur ein geschicktes Täuschungsmanöver sei,
von dieser eigentlichen Aussage abzulenken, die nach GM III 23 zu korrelieren
sei mit der Idee „that we moderns are in fact the ultimate embodiment of the
ascetic ideal" (Gemes 2006, 191). Es wäre ein Effekt der asketischen Moral, den
Erkenntnissuchenden ein Selbstopfer abzuverlangen (vgl. Hatab 2008c, 26).
Gemes 2007 sieht GM entsprechend als Meisterwerk der Wissensverunsiche-
rung - vor allem des Wissens über uns selbst.
Eine vierte, kontextualisierende Lesart von GM Vorrede 1 insistiert demge-
genüber darauf, dass es sich bei diesem auffälligen Reden über das erkennen-
de „Wir" - das die Erwartung der Leser weckt, sie würden über dieses „Wir"
Auskunft bekommen, nur um in diesem Ansinnen brüsk zurückgewiesen zu
werden - um die Kontrafaktur einer berühmten Exposition handelt, mit der
zwei der wichtigsten Werke der neuzeitlichen Philosophie beginnen: Francis
Bacon formuliert in der Vorrede seiner Instauratio magna die Forderung, die
Immanuel Kant dann als Motto zur Kritik der reinen Vernunft zitiert: „De nobis
ipsis silemus: De re autem, quae agitur, petimus: ut homines eam non opinio-
nem, sed opus esse cogitent; ac pro certo habeant, non sectae nos alicuius, aut
placiti, sed utilitatis et amplitudinis humanae fundamenta moliri." (AA III 2.
„Von uns selbst wollen wir schweigen: Aber wegen der Sache, um die es sich
handelt, verlangen wir: dass die Menschen sie nicht für eine bloße Meinung,
sondern als Werk erachten sollen und dass sie für gewiss halten sollen, dass
wir angetrieben werden, nicht die Grundlagen irgendeiner Sekte oder Lehre,
sondern der menschlichen Nützlichkeit und Fülle zu legen.") Selbsterkenntnis
geht nach dieser Exposition also keineswegs der Sacherkenntnis voraus oder
muss jedenfalls nicht explizit gemacht werden. Aus dem Schweigen über sich
selbst folgt ebenso wenig wie aus der behaupteten Unmöglichkeit der Selbster-
kenntnis die tatsächliche Unmöglichkeit der Sacherkenntnis (vgl. 247, 13). Der
Paralleltext zu GM Vorrede 1 im Blick auf die Unmöglichkeit von Selbsterkennt-
nis, nämlich FW 335, heißt nicht umsonst „Hoch die Physik!" (KSA 3, 560,
16). Wer über „moralische Vorurtheile" (248, 5 f.) Erkenntnisse erwirbt, muss
dazu nicht notwendig sich selbst kennen. Zunächst analog zum kritischen Ge-
schäft bei Bacon und Kant (opinio!) scheint in GM Vorrede die Kritik am Vorur-
 
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