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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0080
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Stellenkommentar GM Vorrede 2, KSA 5, S. 248 61

27), bevor es ein „Euch" anspricht, das offensichtlich lesenderweise zunächst
einmal außen vorsteht. Das „Ich" stellt sich vor als derjenige, der Menschliches,
Allzumenschliches geschrieben hat, als das historische Subjekt also, das die
Vorrede verfasst hat. Dieses „Ich" beginnt jetzt eine Genealogie in eigener Sa-
che, indem es der Frage nachgeht, wie sich sein eigenes Denken über morali-
sche Urteile von Kindesbeinen an entwickelt hat, in der Absicht, darin eine
verborgene Einheit und Kohärenz zu entdecken. Einen solchen „Grundwil-
len der Erkenntniss" (248, 26) weist es dann als wünschbares Charakteristi-
kum der „Philosophen" (248, 27) aus - und diese Philosophen wiederum ma-
chen das „Wir" aus, wie es am Ende explizit heißt (249, 4). Die Hervorbringun-
gen dieses „Wir" werden mit dem Anschein natürlichen Zwangs geadelt - was
immer das „Euch" dazu sagen mag. Die Suggestion ist deutlich: Keine Willkür,
keine subjektive Präferenz herrsche im moralkritischen Geschäft, dem sich das
„Ich" seit jeher unterworfen sah, sondern innere Notwendigkeit. Ob dahinter
eher Metaphysik steckt als rhetorische Suggestion, sei dahingestellt.
Man könnte in der Vorrede zu GM den Versuch des sprechenden „Ich" zu
beobachten wähnen, sich selbst emphatisch anzuerkennen angesichts des Um-
standes, dass sonst niemand es anerkennt - wenn niemand die Früchte will,
was geht es den Baum an? Das alte Autarkie-Ideal des Philosophen impliziert,
dass es reichen müsste, sich selbst anzuerkennen und wertzuschätzen, zumal
als Vornehmer. Und doch giert das „Ich" nach der Anerkennung des Publi-
kums, das es mit immer lauterem Sprechen auf sich aufmerksam zu machen
sucht - was wiederum seltsam unvornehm, geradezu impertinent klingt.
248, 5-15 Meine Gedanken über die Herkunft unserer moralischen Vorurthei-
le — denn um sie handelt es sich in dieser Streitschrift — haben ihren ersten,
sparsamen und vorläufigen Ausdruck in jener Aphorismen-Sammlung erhalten,
die den Titel trägt „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister",
und deren Niederschrift in Sorrent begonnen wurde, während eines Winters, wel-
cher es mir erlaubte, Halt zu machen wie ein Wandrer Halt macht und das weite
und gefährliche Land zu überschauen, durch das mein Geist bis dahin gewandert
war. Dies geschah im Winter 1876-77; die Gedanken selbst sind älter.] Das am
Anfang des Abschnitts herausgestellte Possessivpronomen der 1. Person Singu-
lar verdeutlicht, bezogen auf den Inhalt des vorliegenden Buches auch in Ver-
bindung mit dem Hinweis auf den Streitschriftcharakter, dass man es bei GM
nicht mit einem Werk zu tun hat, das moralhistorisch oder moralwissenschaft-
lich objektiv zu sein beansprucht: Wer über Moral redet, setzt Moral voraus -
womöglich nur eine andere als die, über die er redet.
Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister wird vom Verle-
ger Ernst Schmeitzner in Chemnitz am 7. Mai 1878 ausgeliefert (Schaberg 2002,
281). Der Beginn der Arbeit an diesem Buch, das auf dem Titelblatt der Erstaus-
 
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